Demenz: Umgang mit Demenz – Vergiss mein nicht

Erkrankt ein Mensch an Demenz, stellt das nicht nur sein eigenes Leben völlig auf den Kopf, sondern auch das der Angehörigen. Dabei geht es nicht nur um die bisherigen täglichen Aufgaben und Rituale, auch Gefühle für- und der optimale Umgang miteinander müssen neu geordnet werden. Dass die Demenz-Erkrankung dabei nicht nur traurige Seiten hat, weiß David Sieveking, Filmemacher aus Berlin. Für seinen Film Vergiss mein nicht hat er seine erkrankte Mutter Gretel über zwei Jahre bis zu ihrem Tod 2012 mit der Kamera begleitet.

David erinnert sich, dass die ersten Anzeichen eigentlich ganz harmlos waren und doch für Verwunderung sorgten: Plötzlich konnte sich meine Mutter nicht mehr an das Rezept für den Oster-Hefezopf erinnern, den sie bereits über Jahrzehnte gebacken hatte. Zudem hingen in der Wohnung immer mehr Merkzettel. Das war 2005.

Ein Jahr später unterzieht sich Gretel einer Hüft-Operation, ist danach stark verwirrt. Die Ärzte haben uns gesagt, dass das nach einer langen OP mit Vollnarkose schon mal vorkommen könnte und wieder vorbei gehe. Aber meine Mutter wurde danach nie wieder dieselbe.

Und obwohl die geistigen Aussetzer zunahmen, dauerte es noch fast drei Jahre bis zu endgültigen Diagnose Demenz. Vorherige Erklärungsversuche waren u. a. Durchblutungsstörungen oder eine Depression.

Ein Jahr vor der Diagnose hieß es, Gretel leide unter einer leichten kognitiven Beeinträchtigung, da sie bei den standardisierten Tests ihrem Alter entsprechend immer noch relativ gut abschnitt. Diese Aussage klang für uns völlig lächerlich, meine Muter konnte schon lange nicht mehr ohne Betreuung leben, nicht mehr kochen, sich nicht mehr alleine anziehen. Die endgültige Diagnose konnte Gretel dann schon gar nicht mehr vernünftig verarbeiten.

Pflege zu hause?

Mein Vater Malte war davon überzeugt, dass die verschriebenen Medikamente keine merkliche Verbesserung brachten. Stattdessen wirkten der richtige Umgang miteinander und eine gute entspannte Atmosphäre wahre Wunder, erklärt David die Entscheidung, Gretel im Haus der Familie zu betreuen. Damit übernahm Malte die Hauptarbeit, die Kinder wohnten nicht mehr zu Hause, hatten Berufe und – im Fall der zwei Schwestern – auch Familie. Die Idee, meine Mutter mit der Kamera zu begleiten, entstand, als mein Vater von der kräftezehrenden Pflege meiner Mutter mal eine Auszeit brauchte. Da ich familiär ungebunden und durch meinen Beruf auch relativ flexibel bin, wollte ich ihn entlasten und habe ich ihn vertreten – mit allen Aufgaben, die damit verbunden waren, so David.

In dieser Zeit und durch die Arbeit für den Film habe er viel Neues über seine Mutter und die gemeinsame Geschichte seiner Eltern erfahren. Doch über allem stand die Herausforderung, mit der Erkrankung seiner Mutter umgehen zu lernen und ihr einen möglichst schönen lebenswerten Alltag zu gestalten. Es sei – so David – ja nicht selbstverständlich, dass Erkrankte zu Hause wohnen bleiben. Das müsse jede Familie individuell entscheiden.

Keine Erklärungen suchen

Es nützt auch nichts, nach Erklärungen für eine Demenz zu suchen, damit steht man sich nur selbst im Weg. Man muss seine eigene Trauer, seine Wut und den Schmerz beiseite schieben. Eine Ärztin habe mal gesagt, dass man nicht versuchen solle, den Patienten aus der Vergangenheit zu erklären. Da ist etwas Wahres dran. Wir haben gemerkt, dass in dem Moment, in dem wir uns von der Person, die meine Mutter früher war, gelöst haben, wir offen für neue und teils schöne Erlebnisse waren.

Natürlich vermisse man gemeinsame Kinobesuche oder interessante Gespräche, aber stattdessen seien kleine Gefühlsgesten oder einfache Tätigkeiten wichtig geworden, wie das gemeinsame Essen eines Apfels, Händchenhalten oder der Satz Ich liebe Dich!.

Um diese Erlebnisse machen und vor allem genießen zu können, sei Unterstützung von außen bei der Pflege aber unerlässlich. Ohne eine solche Entlastung gehe zuviel Kraft verloren. Diese Erfahrung habe auch sein Vater machen müssen, so David. Er hatte aufgrund seiner Pensionierung zwar Zeit, dennoch war es ganz essenziell, dass er sich eine Pflegekraft ins Haus geholt hat. Dazu können wir anderen Angehörigen nur raten: Es gibt viele gute Hilfsangebote und diese darf und sollte man auch in Anspruch nehmen, damit man sich selbst nicht zu sehr verbraucht.

Neue Lebensenergie

Im Fall seiner Mutter habe er zwar erst einiges lernen müssen, dann aber habe er auch viele neue – auch für Gretel anregende Aspekte in den Alltag gebracht. Das anfängliche Hauptproblem war, dass meine Mutter nur lethargisch im Bett lag und sich zu nichts motivieren ließ. Also habe ich nach Wegen gesucht, sie wieder zu mobilisieren, etwa mit Hausarbeit. Natürlich erfährt man auch viele frustrierende Rückschläge, aber man darf dann nicht aufgeben. Man sollte nicht über-, aber auch nicht unterfordern. Vor allem darf man Ablehnung nicht persönlich nehmen. Manchmal reicht schon ein Schlüsselwort aus und der Betroffene ist plötzlich doch aktiviert. Wir sind letztendlich ja sogar zusammen in die Schweiz gefahren, um meinen Vater aus dem Urlaub abzuholen. Das hätte ich anfangs niemals gedacht. Diese neue Lebensfreude meiner Mutter hat dann auch meinen Vater wieder beflügelt und ihre Lebensqualität verbessert – nicht zuletzt, da sie ihre Liebe zueinander neu entdeckt haben!

Konflikte vermeiden

Auch wenn es bei aller Individualität keine Patentlösung für den Umgang mit einem Demenz-Patienten gibt, hat David aus seiner persönlichen Erfahrung dennoch ein paar Tipps: Man sollte seine Erwartungen nicht zu hoch schrauben, dann kann man auch nicht enttäuscht werden. Und man sollte offen sein für Neues. Dann können die Erwartungen auf einmal auch weit übertroffen werden und man wird positiv überrascht!

Zudem sollte man die Sorgen der Betroffenen immer ernst nehmen und Konflikte, so gut es ginge, vermeiden und nicht auf seine Meinung bestehen, die der Betroffene eh nicht nachvollziehen könne. Wenn meine Mutter z. B. Hunger äußerte, obwohl sie erst vor Kurzem gegessen hatte, machte es doch keinen Sinn, darauf zu bestehen, dass sie keinen Hunger haben könnte. Eine solche Belehrung ist für die Erkrankten abweisend und erschreckend. Sie verstehen die Aussagen nicht und sind entsprechend frustriert. Als Folge ziehen sich zurück. Wie sollen sie denn auch verstehen, dass alle um sie he-rum sich plötzlich komisch verhalten und sie sich auch mit ihrem eigenen Körper nicht mehr zurechtfinden, so David. Ich glaube, ein solch entspannter Umgang ist nicht nur mit Demenz-Erkrankten ratsam, sondern hilft zwischenmenschlich immer, egal ob jemand gesund oder krank ist.

Weltmeister der Emotionen

Bei den Demenz-Patienten spiele immer eine große Rolle, dass man den richtigen Tonfall trifft. Bei seiner Mutter sei es ab einem bestimmten Punkt nicht mehr entscheidend gewesen, was man sagte, sondern eher wie es klang. Ein guter Ton sorgte für bessere Stimmung und dafür, dass man sich miteinander wohlfühlte. Ein anderer Arzt sagte mal, die Dementen seien Weltmeister der Emotionen, da sie – dadurch dass sie nicht mehr die Worte analysieren könnten und ihr Intellekt sich verabschiedet hatte – mehr direkt auf die Gefühle ihrer Gegenüber achteten, auf den Tonfall oder die Mimik. Das traf bei meiner Mutter sehr zu. Bis zum letzten Atemzug schien sie Gesichter zu lesen und zeigte Mitgefühl.

Mit dem Film wollte er ihr ein Denkmal setzen und auch anderen Angehörigen Mut machen, eine Demenz-Erkrankung nicht nur als Last zu empfinden.