Psyche: DMDD – neue Krankheit oder Modediagnose?

Von ADHS plus sprechen Psychologen, wenn ADHS bei Kindern mit heftigen Wutanfällen und Depressionen einhergeht. In den USA sind diese extremen Stimmungswechsel jetzt als neues Krankheitsbild etabliert: DMDD. Droht damit die nächste Modediagnose für komplizierte Heranwachsende?

Das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom ist dann besonders interessant, wenn Kinder und Jugendliche, außer zappelig, unaufmerksam und reizbar zu sein, auch zwischen extremen Stimmungen schwanken – und sogar versuchen, sich das Leben zu nehmen. Im US-amerikanischen Diagnosehandbuch (DMG-5) steht dafür jetzt die Bezeichnung Disruptive Mood Dysregulation Disorder, kurz: DMDD. Deutsche Mediziner sprechen von affektiver Dysregulation, als Krankheit ist sie hierzulande noch nicht gelistet. Die plötzlich wechselnden Gemütszustände kommen Studien zufolge deutlich häufiger bei Kindern mit ADHS als bei anderen vor. Beunruhigend ist, dass die Kombination von ADHS und DMDD offenbar auffällig viele lebensuntüchtige, suizidgefährdete junge Erwachsene hervorbringt.

Diagnose-Lücke geschlossen?

Dass genau diese psychische Störung auch in Deutschland oft verkannt wird, davon geht der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. med. Martin Holtmann von der LWL-Universitätsklinik in Hamm aus: Die Symptome ähneln dem ADHS, würden aber durch extreme Reizbarkeit und Aggressivität verkompliziert. Daher auch die Bezeichnung ADHS plus. Sie legt nahe, dass es sich um ADHS mit besonderer Ausprägung handelt. Anders in den USA: Dort attestierte man den betroffenen Kindern bisher eine bipolare Störung und als manisch-depressive Patienten wurden sie dann auch behandelt. Mögliche Fehldiagnosen und falsche Therapien sollen mit der neuen Klassifizierung DMDD in Zukunft verhindert werden. Damit könnte in Zukunft eine Lücke in der Diagnostik geschlossen sein.

Krankheitswelle befürchtet

Doch ist den Kindern damit wirklich geholfen? Nein, meint der amerikanische Psychiater Allen Frances. Er ist ein viel beachteter, entschiedener Kritiker der neuen Diagnose und prophezeit, dass es mit DMDD zu einer nächsten Epidemie kommen wird, nach Autismus, bipolarer Störung und ADHS. Er warnt davor, verhaltensauffälligen Kindern mit neuen Therapien und Psychopharmaka zu Leibe zu rücken. Mit Vorsicht betrachten Fachärzte auch hierzulande die neue Krankheit: Neue diagnostische Kategorien bringen nicht selten Modediagnosen hervor, gibt auch Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort von der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf zu bedenken, und das DMDD wird sicherlich zunächst dazu führen.

Seltene Kinderkrankheit

Für den Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater sind ADHS und DMDD zwei verschiedene Krankheitsbilder und auch getrennt zu diagnostizieren. Kommt beides zusammen vor, so Prof. Schulte-Markwort, ist zunächst das ADHS zu behandeln, weil auch Folgesymptome in der Regel durch eine wirksame Therapie geringer werden. Liegt bei einem Kind ohne Aufmerksamkeitsdefizit der Verdacht auf DMDD nahe, berät er zunächst die Eltern. Danach komme eine Psychotherapie für das betroffene Kind in Frage. Hilft das nicht, könne man über eine unterstützende Behandlung mit Medikamenten nachdenken. Der Anteil aller betroffenen Kinder in Deutschland wird auf ein Prozent geschätzt, bei Kindern mit ADHS sind es mit 20 Prozent deutlich mehr.

Für eine neue Modediagnose könnte das reichen. Nun kommt es auf die Fachärzte, Psychologen und Psychotherapeuten an. Das Fazit des Kinder- und Jugendpsychiaters Prof. Schulte-Markwort: Je professioneller die beteiligten Berufsgruppen darauf reagieren, desto schneller wird sich das DMDD dort einsortieren, wo es hingehört: in die Klasse der seltenen psychischen Erkrankung des Kindesalters.

Die Symptome sind uns längst bekannt. Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort, UKE Hamburg