Multiple Sklerose: Einen Moment noch, bitte!

Kognitive Störungen bei Multipler Sklerose können das Arbeitsgedächtnis schwächen. Wir brauchen es, um komplexe Aufgaben zu lösen und Neues zu erlernen. Wie lässt sich das Gehirn gezielt trainieren, um kognitiv fit zu bleiben? Antworten darauf kennt die Neuropsychologin Dr. Iris-Katharina Penner.

Wie funktioniert das Arbeitsgedächtnis?

Das Arbeitsgedächtnis ist als Speicher zu verstehen, in dem Informationen kurzfristig verändert werden können. Es setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Kurzzeitgedächtnis, Geschwindigkeit der Informa-tionsverarbeitung und mentale Flexibilität, also die spontane Verknüpfung unterschiedlicher Informationen. Kommt es bei Multipler Sklerose zu kognitiven Schwächen, sind häufig alle drei Komponenten betroffen.

Wie macht sich eine kognitive Schwäche bemerkbar?

Wenn Sie mehr Zeit brauchen, um Ihre Gedanken zu sammeln. Oder Sie stehen im Supermarkt und wissen nicht mehr, was Sie kaufen wollten. Bereits mit Beginn der MS können sich kognitive Kernfunktionen verändern. Wir beobachten allerdings auch, dass geistig sehr aktive Menschen erst später solche Einbußen erleben.

Wann kommen Patienten zu Ihnen?

Meistens kommen Patienten, weil sie feststellen, dass sie sich in Beruf oder Alltag Dinge nicht mehr gut merken können. Wir empfehlen nach einem ausführlichen Gespräch in der Regel eine neuropsychologische Abklärung, die etwa zwei Stunden dauert. Die Patienten lösen spezielle Aufgaben, mit denen wir das Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis sowie Geschwindigkeit und Flexibilität prüfen. So ergibt sich ein Profil, das wir auswerten können.

Was bringt eine neuropsychologische Abklärung?

Mehr Sicherheit, unter anderem. Denn es fällt auf, dass viele MS-Patienten offenbar hohe Ansprüche an ihre geistige Leistungsfähigkeit stellen. Oft weichen ihre Testergebnisse nicht von denen gesunder Gleichaltriger ab. Eine Abklärung kann daher auch sehr entlasten.

Wie lässt sich die kognitive Leistungsfähigkeit erhalten?

Auf jeden Fall wirkt sich Sport positiv auf die Kognition aus, vor allem moderates Ausdauertraining. Wichtig ist, das Gehirn immer neu zu fordern. Fremdsprachen zu lernen, zu musizieren und zu singen, eignet sich dazu hervorragend, weil man sich ein Ziel vorstellen und ständig Fortschritte machen kann.

Worauf kommt es beim Gehirntraining an?

Darauf, gezielt seine Schwächen zu trainieren, sei es Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Konzentration. Mit unseren Patienten führen wir ein therapeutisches Training am Computerbildschirm durch, mit dem sich die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses messbar verbessern lässt.

Hält der Trainingserfolg an?

Ja, mit wiederholtem Üben. Bei Patienten, die bei uns studienhalber einen Monat lang vier Mal pro Woche trainiert haben, hielt das verbesserte Arbeitsgedächtnis etwa ein halbes Jahr an. Gehirntraining ist im Grunde wie Muskeltraining. Was sich nicht bewegt, erschlafft. Je aktiver wir geistig sind, desto größer ist unsere kognitive Reserve. Mithilfe dieses Puffers lassen sich auch neue Strategien entwickeln, um sich Dinge wieder merken zu können.

Was schlagen Sie vor, um sich Dinge besser zu merken?

Trainieren Sie Ihr Gehirn auch im Alltag. Lassen Sie Ihren Einkaufszettel auf dem Küchentisch liegen und gehen Sie in den Supermarkt. Anschließend sehen Sie, ob Sie an alles gedacht haben. Wenn nicht, ist es sinnvoll, sich Eselsbrücken zu bauen oder sich andere Memotechniken anzueignen.

Kann man auch mit MS noch erfolgreich Neues lernen?

Die Lernkurve verläuft zwar bei MS-Patienten im Durchschnitt flacher als bei gleichaltrigen Gesunden. Das liegt daran, dass je nach Ausmaß der geschädigten Neurone weniger Informationen in der gleichen Zeit transportiert werden. Doch das Gehirn ist in der Lage, selbst bei stärkerer kognitiver Beeinträchtigung neue Vernetzungen zu knüpfen. Im Prinzip bleibt es also in jeder Phase der Multiplen Sklerose möglich dazuzulernen.