chronisch krank: Die Krise meistern

Multiple Sklerose, Parkinson oder Epilepsie – die Diagnose einer unheilbaren Krankheit wird fast immer als schwere Krise erlebt. Wie wird die Erkrankung das eigene Leben verändern? Wie geht man mit einem Körper um, der nicht mehr das tut, was man möchte? Was alles wird man wegen der Krankheit aufgeben müssen? Fragen wie diese dürften den meisten Betroffenen bekannt vorkommen. Zum Glück gibt es Wege, um aus einer solch schwierigen Situation gestärkt hervorzugehen.

Es ist dieser eine Besuch beim Arzt, der das Leben auf den Kopf stellt. Nichts scheint mehr zu sein, wie es vorher war. Die meisten Menschen, die erfahren, dass sie an einer chronischen Erkrankung leiden, fallen zunächst einmal in ein seelisches Loch.

Denn eine chronische Erkrankung bleibt. Manchmal schreitet sie fort und bringt neue Beeinträchtigungen mit sich. Zuweilen verändert sich über Jahre hinweg kaum etwas. Mitunter bessern sich die Symptome sogar, doch vorhersehbar ist das in den meisten Fällen nicht. Die Unsicherheit, die das eigene Leben von nun an begleiten wird, stellt für fast alle Betroffenen eine erhebliche Bürde dar, sagt Joachim Saur, niedergelassener Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie in Neusäß bei Augsburg. Viele Patienten erleben die Diagnose einer chronischen Erkrankung daher als eine schwere Krise.

Gut zu wissen, dass man mit dieser Situation nicht allein ist: Es gibt Statistiken, die besagen, dass jeder dritte Mensch hierzulande mindestens einmal im Jahr unter einer heftigen psychischen Krise leidet. Und so verschieden die Auslöser und Ursachen dafür sind, so sehr ähnelt sich das Muster der Bewältigung: Fast immer verläuft sie in vier Phasen, die je nach Charakter und Lebenssituation unterschiedlich lang sein können.

1. Phase: Verdrängung, Verleugnung

Am Anfang steht fast immer das Nicht-wahrhaben-wollen. Eine Krankheit, die das Leben von nun an stets begleiten, vermutlich für immer verändern wird? Das kann nicht, das darf nicht sein. Die schreckliche Diagnose zunächst zu verdrängen, Symptome schönzureden oder schlicht zu ignorieren – ein solches Verhaltensmuster, das manchmal nur ein paar Tage, oft aber auch viele Wochen anhalten kann, ist für die meisten Menschen zu Beginn einer chronischen Erkrankung sehr typisch. Nur hilft es leider nicht weiter. Im Gegenteil: Gerade jetzt ist es wichtig, der Krankheit ins Auge zu schauen, die Weichen für das weitere Leben richtig zu stellen und vor allem auch die für einen selbst bestmögliche Therapie zu finden. Denn insbesondere im Anfangsstadium einer Erkrankung lassen sich deren Symptome oft noch sehr gut in den Griff bekommen.

2. Phase: Aufbrechende Gefühle

Hat man erst einmal realisiert, dass die Diagnose kein böser Traum war, aus dem man bald wieder erwacht, werden die meisten Patienten erst einmal von den unterschiedlichsten Gefühlen überwältigt. Es mischen sich Angst, Trauer, Wut und vielleicht sogar das Gefühl, selbst an der Erkrankung Schuld zu sein. Angst vor dem Unbekannten, vor dem, was die Krankheit mit einem anstellen wird. Trauer um ein Leben, das vermutlich nie wieder so sein wird, wie es einmal war. Wut auf andere, denen es besser geht als einem selbst, auf das Schicksal, das einem so übel mitgespielt hat. Warum gerade ich? ist eine Frage, die sich die meisten Patienten stellen. Solche Gefühle sind normal und dürfen auch zugelassen werden – allerdings nicht auf Dauer. Hilfreicher ist es, irgendwann den Kopf einzuschalten und den Blick auf die Fakten zu richten: Oft ist die Lage gar nicht so aussichtslos, wie es einem die Gefühle zunächst weismachen wollen.

3. Phase: Neuorientierung

Irgendwann – bei den einen nach ein paar Wochen, bei anderen vielleicht erst nach Monaten – treten die Gefühle in den Hintergrund und der Verstand meldet sich zurück. Und das ist auch gut so. Denn eine sachliche Bestandsaufnahme verhilft zu einem objektiveren Blick auf die Erkrankung und ermöglicht es, neue Wege zu finden, um trotz möglicher Beeinträchtigungen ein erfülltes Leben zu führen. Dafür ist es wichtig, sich schlauzumachen: Wer weiß, welche Symptome mit der Krankheit einhergehen können und vor allem, wie man diesen am besten begegnet, ist schon einen entscheidenden Schritt weiter. Nicht nur das Gespräch mit Ärzten, auch das mit Gleichgesinnten, die sich beispielsweise in Selbsthilfegruppen finden, oder das Lesen im Internet können dabei helfen. Gut tut es meistens auch, von sich aus auf die Familie und enge Freunde zuzugehen, offen über die Erkrankung und die aus ihr resultierenden möglichen Veränderungen zu sprechen und sich gemeinsam zu überlegen, wie das Leben jetzt weitergehen kann.

4. Phase: Neues Gleichgewicht

Der Höhepunkt der Krise ist nun überwunden, die emotionale Balance ist weitgehend wiederhergestellt. Doch noch immer warten einige Herausforderungen. Denn jetzt gilt es, das Gelernte und die neu gewonnenen Erfahrungen in die Praxis umzusetzen und den Mut aufzubringen, die dazu gehörenden Schritte auch zu leben, die Verantwortung für das eigene Leben wieder selbst zu übernehmen – ein Prozess, der sich über viele Jahre erstrecken kann. Nun ist es an der Zeit, neue Verhaltens- und Erlebensweisen auszuprobieren, neue Werte entstehen zu lassen und neue Beziehungen zu erschließen. Wem all das gelingt, und sei es auch nur in ganz kleinen Schritten, der wird aus der Krise gestärkt hervorgehen und auch sein neues Leben mit der Krankheit als erfüllt und zutiefst lebenswert empfinden.

Das Wissen um diese Phasen, um die damit verbundenen Gefühle, Denkmuster und Verhaltensweisen, hilft vielen Patienten bereits dabei, ihre Krise rascher und nachhaltiger zu meistern, sagt Joachim Saur. Eine wichtige Rolle dabei spielen übrigens auch Vorbilder: Menschen, die eine ähnliche oder andere Krisensituation, etwa Arbeitslosigkeit oder den Verlust eines geliebten Menschen, erfolgreich bewältigt haben. Vielleicht stehen sie gern mit Rat und Tat zur Seite.

Bestimmt kennen auch Sie Menschen, die selbst in schwierigsten Phasen optimistisch bleiben, nach vorn schauen und sich das eigene Leben von nichts und niemandem aus der Hand nehmen lassen. Wo andere verzweifeln, bleiben sie unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung. Wissenschaftler nennen diese besondere Fähigkeit Resilienz, oft übersetzt mit Widerstandskraft. Der lateinische Ursprung des Begriffs ist resilire und das bedeutet so viel wie abprallen oder zurückspringen.

Mehr Widerstandskraft

Die Frage, was manche Menschen so widerstandsfähig macht, ist in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Wissenschaft gerückt. Während sich Psychologen, Psychiater und Neurowissenschaftler früher vor allem dafür interessiert haben, warum Menschen in Krisensituationen Depressionen oder andere psychische Erkrankungen entwickeln, erforschen inzwischen immer mehr von ihnen die Ressourcen innerer Stärke.

Man weiß heutzutage, dass die Grundsteine für Resilienz bereits in der frühen Kindheit gelegt werden, sagt Saur. Wer als Kind die Erfahrung gemacht hat, akzeptiert und respektiert zu sein, von anderen unterstützt zu werden und enge emotionale Beziehungen zu den Eltern oder anderen Bezugspersonen aufbauen konnte, wird als Erwachsener Krisen leichter meistern und an ihnen wachsen.

Die gute Nachricht ist: Selbst Menschen, denen all das in ihrer Kindheit verwehrt geblieben ist, können Resilienz erlernen, betont Saur. Die innere Einstellung und ein paar ganz praktische psychische Fähigkeiten helfen dabei. Einer der wichtigsten Schritte besteht darin, die Opferrolle zu verlassen und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, sagt Saur. Wem es gelingt, Altes loszulassen und optimistisch nach vorn zu schauen, an Problemen nicht verzweifelt, sondern sich aktiv um Lösungen bemüht, der hat schon viel gewonnen. ab

Kleine Checkliste für schlimme Momente

  • Bleiben Sie sachlich! Schreiben Sie die Fakten auf und versuchen so, rationale von irrationalen Gedanken zu trennen – und letztere möglichst schnell wieder zu verbannen.
  • Nehmen Sie keine Schuldzuweisungen vor! Niemand ist schuld an ihrer Erkrankung, weder Sie selbst noch andere.
  • Legen Sie ab, was nicht mehr hilfreich ist! Vieles von dem, was früher einmal nützlich war, bringt Sie in der neuen Situation wahrscheinlich nicht weiter.
  • Entwickeln Sie neue Szenarien! Malen Sie sich in schönen Farben aus, wie Ihr Leben von nun an verlaufen könnte. Was wollten Sie schon immer einmal tun? Vielleicht ist jetzt die Gelegenheit dazu.
  • Seien Sie Akteur! Sie selbst und nicht die Krankheit oder andere Menschen bestimmen über Ihr Leben. Legen Sie die Opferrolle ganz bewusst ab.

So werden Sie resilient!

  • Suchen Sie sich die richtigen Vorbilder! Optimistische, nach vorn schauende Menschen werden Ihnen besser tun als schwarzsehende Nörgler.
  • Trainieren Sie die eigenen Stärken, anstatt sich auf Ihre Schwächen zu konzentrieren!
  • Üben Sie Dankbarkeit! Schreiben Sie am Ende eines Tages auf, wofür Sie heute dankbar sein können und was Sie zumindest einen Moment lang glücklich gemacht hat.
  • Nehmen Sie Hilfe an! Resiliente Menschen wissen, wann es notwendig ist oder einfach nur gut tut, sich unterstützen zu lassen.
  • Treiben Sie Sport! So erfahren Sie, was es bedeutet, Kontrolle über den eigenen Körper zu gewinnen.