Multiple Sklerose: Ein Novum nach dem anderen

In der MS-Therapie hat sich in den vergangenen Monaten viel getan. Neue Medikamente sind auf dem Markt oder stehen kurz vor der Zulassung, eine europäische Leitlinie ist erschienen und auch die Diagnosekriterien wurden überarbeitet.

Vor einer bestimmten Diagnose fürchten sich MS-Patienten und ihre Ärzte seit jeher ganz besonders: Keine Verlaufsform der Multiplen Sklerose klingt so bedrohlich wie die progrediente – unabhängig davon, ob sie primär vorhanden ist oder sekundär erworben wurde. Denn bis vor Kurzem gab es keinerlei Medikamente, mit denen man das kontinuierliche Fortschreiten der Erkrankung, bei der keine Schübe mehr auftreten, hätte behandeln können.

Neue Medikamente

Das hat sich glücklicherweise geändert. Mit dem Antikörper Ocrelizumab, der im Januar dieses Jahres in Europa zugelassen wurde, steht erstmals ein Wirkstoff zur Verfügung, der nicht nur gegen die verbreitete schubförmig-remittierende MS (RRMS) hilft, sondern auch gegen die primär progediente Form der Erkrankung (PPMS). An dieser besonders aggressiven, weil von Beginn an kontinuierlich fortschreitenden Form der Multiplen Sklerose leiden zwischen 10 und 15 Prozent aller MS-Patienten.

Auch für die sekundär progrediente Form (SPMS), die bislang ebenfalls als nicht behandelbar galt, soll noch in diesem Jahr ein Wirkstoff auf den Markt kommen. Die Substanz namens Siponimod hat gerade in einer großen Studie mit mehr als 1.600 Patienten aus 31 Ländern gezeigt, dass sie das kontinuierliche Fortschreiten der Erkrankung zumindest verzögern kann. Unbehandelt entwickeln mehr als die Hälfte aller Patienten mit schubförmiger MS im Durchschnitt zehn Jahre nach der Erstdiagnose eine SPMS.

Insbesondere die Entwicklung der Antikörper, die zielgerichtet bestimmte Abwehrzellen, die B-Zellen, im Blut zerstören, war meines Erachtens ein echter Quantensprung in der MS-Therapie, sagt Professor Bernhard Hemmer, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.

Ocrelizumab und auch dessen Vorgängermolekül Rituximab – das schon seit vielen Jahren Off-Label, also ohne offizielle Zulassung für die Behandlung der MS, bei Patienten mit hochaktiver RRMS zum Einsatz kommt – seien insbesondere bei der schubförmigen MS sehr wirksam und hätten offenbar nur recht wenige Nebenwirkungen, sagt Hemmer. Es handelt sich somit um sehr effektive und, soweit man das bisher beurteilen kann, relativ sichere Medikamente, die die Behandlung der Multiplen Sklerose nachhaltig verändern werden.

Hemmers Kollege Dr. Klemens Ruprecht vom Klinischen und experimentellen Forschungszentrum für Multiple Sklerose an der Berliner Charité sieht das ähnlich: In den Zulassungsstudien hat Ocrelizumab gerade bei der schubförmig verlaufenden MS im Vergleich zu einem etablierten Interferon-Präparat überzeugende Ergebnisse geliefert. Darüber hinaus sei der Antikörper als erstes Medikament überhaupt in der Lage, den Verlauf einer PPMS zu verzögern. Die in der Studie gezeigten Effekte waren zwar nicht überragend, aber doch signifikant, sagt Ruprecht. Insbesondere bei jüngeren Patienten habe Ocrelizumab moderate Effekte gezeigt, ergänzt Hemmer.

Ein Angriff auf die B-Zellen

Noch fraglich ist, ob Patienten, die bisher Rituximab erhalten haben, nun zu Ocrelizumab wechseln sollten oder sogar müssen. Beide Medikamente sind sich sehr ähnlich und docken an dem gleichen Oberflächenprotein, dem CD20-Molekül, der B-Zellen an, erklärt Hemmer. Zwar sei Ocrelizumab vollständig humanisiert, während Rituximab noch Anteile eines Maus-Antikörpers besitze. Ich denke aber, und das haben auch Erfahrungen aus Schweden gezeigt, wo Rituximab sehr häufig bei der MS zum Einsatz kommt, dass sich die beiden Antikörper hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Nebenwirkungen nicht substanziell unterscheiden, sagt Hemmer. Wenn ein Patient gut auf Rituximab eingestellt sei und dieses Mittel problemlos vertrage, würde er von einem Wechsel eher abraten – vorausgesetzt, die Krankenkassen übernehmen auch weiterhin die Kosten für die Off-Label-Behandlung.

Für alle MS-Patienten werden die B-Zell-gerichteten Therapien, die per Infusion verabreicht werden, allerdings nicht das Mittel der ersten Wahl werden. Als Erstlinientherapie einer mild oder moderat verlaufenden schubförmigen MS würde ich die Antikörper nicht empfehlen, vor allem weil Langzeitdaten zu ihrer Sicherheit noch fehlen, sagt Hemmer. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt sollten diese Medikamente nach Ansicht des Mediziners nur bei Patienten zum Einsatz kommen, die einen hochaktiven Krankheitsverlauf aufweisen oder bei denen andere Mittel versagt haben – oder eben bei Menschen mit PPMS.

Gegen die SPMS

Patienten mit einer SPMS können hingegen nun auf eine baldige Zulassung von Siponimod hoffen. Der Wirkstoff hat in einer im März veröffentlichten Phase III-Studie gezeigt, dass er bei der Behandlung der SPMS einem Placebo leicht überlegen ist. Damit könnte das Medikament, das wie sein Vorgängermolekül Fingolimod zu den S1P-Rezeptor-Modulatoren zählt und oral als Kapsel eingenommen wird, noch in diesem Jahr auf den Markt kommen. Fingolimod ist in Europa seit dem Jahr 2011 zur verlaufsmodifizierenden Therapie einer hochaktiven RRMS zugelassen.

Wie der Studienleiter Professor Ludwig Kappos, Chefarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Universitätsspital Basel, und seine Kollegen berichten, reduziert Siponimod das Risiko, dass MS-bedingte Behinderungen innerhalb von drei Monaten zunehmen, im Vergleich zu einem Placebo um 21 Prozent. Zugleich zeigten die MRT-Aufnahmen nach einer zweijährigen Behandlungszeit, dass sich der Verlust des Hirnvolumens durch eine Therapie mit Siponimod verlangsamte. Auf die Gehgeschwindigkeit wirkte sich das Medikament allerdings nicht aus.

Die beobachteten Effekte sind gut durch die Wirkungen von Siponimod auf das Immunsystem zu erklären, sagt der Münchner Neurologe Hemmer. Die neurodegenerativen und regenerativen Prozesse im Gehirn scheine das Medikament hingegen nicht wesentlich zu beeinflussen. Die besten Ergebnisse habe der Wirkstoff bei Patienten gezeigt, die ein oder zwei Jahre vor Studienbeginn noch entzündliche Aktivitäten aufgewiesen hätten, sagt Hemmer. Insofern sei der Wirkstoff vermutlich insbesondere eine Option für Patienten, die sich im Übergang von einer RRMS zur SPMS befänden.

Zwanzig neue Empfehlungen

Bei der Auswahl des Medikaments, das auf die individuellen Bedürfnisse eines jeden MS-Patienten möglichst optimal zugeschnitten ist, soll künftig eine europäische Leitlinie helfen. Sie wurde im Januar von den MS-Gesellschaften 13 europäischer Länder gemeinsam publiziert. Eine Leitlinie auf europäischem Niveau ist ein Novum, das wir sehr begrüßen, sagt Professor Ralf Gold, der Vorstandsvorsitzende des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) und Mit-koordinator des Projekts. Wir können so evidenzbasierte Empfehlungen für ganz Europa zur Verfügung stellen, die dafür sorgen sollen, dass sich die MS-Behandlung weiter verbessert.

Die neue Leitlinie beschäftigt sich mit allen krankheitsmodifizierenden MS-Medikamenten, die zu Beginn des Jahres 2018 in Europa auf dem Markt waren, und klärt über die mit der Therapie verbundenen Chancen und Risiken auf. Zudem geben die insgesamt 27 Autoren um den spanischen Neurologen und MS-Spezialisten Professor Xavier Montalban vom Universitätsklinikum Vall d’Hebron in Barcelona Tipps, anhand welcher Kriterien sich der Erfolg einer Behandlung beurteilen lässt und in welchem Fall ein Medikament abgesetzt und durch ein anderes ersetzt werden sollte. Auch spezielle Situationen, zum Beispiel eine Schwangerschaft, kommen zur Sprache. Unberücksichtigt bleiben hingegen die Behandlung während eines Krankheitsschubs und die symptomatische Therapie.

Um Ärzten und ihren Patienten die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes verlaufsmodifizierendes Medikament zu erleichtern, haben sich die Verfasser der Leitlinie auf 20 Empfehlungen geeinigt. Drei davon gelten als besonders bedeutsam. So sollen Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (CIS, eine Art Vorstufe der MS), bei denen im MRT verdächtige Läsionen sichtbar werden, mit Interferonen oder Glatirameracetat behandelt werden. Menschen mit einer aktiven RRMS sollen möglichst früh krankheitsmodifizierende Medikamente erhalten. Und zeigt ein Patient unter Interferonen oder Glatirameracetat Hinweise auf eine Krankheitsaktivität, soll ihm eine wirksamere Therapie angeboten werden.

Die Leitlinie basiert auf einer umfassenden Analyse der wissenschaftlichen Literatur bis Dezember 2016. Eine Aktualisierung der Empfehlungen ist in spätestens fünf Jahren geplant. Sollten zu einem der Medikamente schon früher wichtige neue Erkenntnisse gewonnen oder gänzlich neue Therapie-Optionen verfügbar werden, ist eine frühere Neuauflage möglich.

Der Liquor gibt Aufschluss

Um eine MS möglichst früh zu erkennen und behandeln zu können, wurden Ende des vergangenen Jahres zudem die Diagnosekriterien, die sogenannten McDonald-Kriterien, verändert. Für Laien sind die Änderungen zunächst recht schwer verständlich. Eine der grundlegendsten Neuerungen besteht darin, dass die zeitliche Dissemination der Entzündung nicht mehr wie früher nur im MRT, sondern jetzt auch durch die oligoklonalen Banden im Liquor nachgewiesen werden darf, sagt Hemmer.

Das heißt, um eine MS zu diagnostizieren, muss gezeigt werden, dass die krankheitsbedingten Veränderungen sowohl an verschiedenen Stellen des Gehirns und Rückenmarks als auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten. Mediziner bezeichnen dies als örtliche und zeitliche Dissemination. Oligoklonale Banden finden sich im Nervenwasser als Folge einer gesteigerten Antikörper-Produktion durch die B-Zellen. Um zu beweisen, dass sich die Entzündung auf das Zentralnervensystem beschränkt, wie es bei einer MS der Fall ist, sollten diese Antikörper nur im Liquor, nicht aber im Blut nachweisbar sein.

Schneller zur Diagnose

Die Konsequenz aus der Änderung ist, dass die Schwelle, eine MS zu diagnostizieren, weiter sinkt, sagt Hemmer. Wir werden also künftig mehr Menschen als bisher eine MS attestieren. Ob wirklich alle Patienten, die die aktuellen Kriterien erfüllen, tatsächlich weitere Schübe entwickeln, müssten Folgestudien zeigen, sagt der Neurologe. Bisherige Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass der Nachweis der oligoklonalen Banden ein starkes Indiz für die Chronifizierung der Erkrankung ist.

Deshalb hält Hemmer die Änderung der Diagnosekriterien grundsätzlich für sehr sinnvoll. Wenn wir eine MS früher diagnostizieren, können wir sie auch eher behandeln, sagt er. Und je rascher die Therapie beginne, desto mehr könne man mit den derzeit verfügbaren Medikamenten erreichen. ab