Multiple Sklerose: »Nicht schonen, sondern fordern«

Physiotherapie ist eine äußerst wirksame Behandlungsmethode bei Multipler Sklerose. Trotzdem profitieren viele Patienten kaum davon. Wie kann das sein?

Sabine Lamprechts wichtigster Rat ist simpel, aber unbequem: »Es muss anstrengend sein«, sagt sie. Seit mehr als 40 Jahren arbeitet die Physiotherapeutin in der Neurorehabilitation und ist auf Patienten mit Multipler Sklerose spezialisiert. »Auf der Bank liegen und massiert werden – allein davon ist noch niemand besser gelaufen.« Genau das aber passiere aus Unwissenheit häufig, wenn sich Betroffene physiotherapeutische Hilfe suchen und ein Wohlfühlprogramm mit Entspannung, Massage und passiven Behandlungstechniken bekommen. Eine verschenkte Chance, denn zielgerichtete Physiotherapie gleicht eher aktivem Training – und kann viel gegen die Erkrankung ausrichten. »So gut wie jeder Patient profitiert in jedem Stadium davon«, sagt Lamprecht.

Diese Einschätzung stützt auch die Wissenschaft: Zahlreiche Studien belegen die Wirksamkeit von Sport bei MS und Physiotherapie wird in den medizinischen Leitlinien zur Behandlung der Erkrankung empfohlen – sie sollte demnach in keinem modernen Therapiekonzept fehlen. »Physiotherapie ist ein wichtiger Behandlungsbaustein«, bestätigt Dr. Dieter Pöhlau, Chefarzt der neurologischen Abteilung und Direktor des MS-Zentrums an der DRK Kamillus-Klinik Asbach. Die Liste der Vorteile für Patienten ist lang: »Physiotherapie kann unter anderem die Mobilität erhalten und die Muskulatur kräftigen, das Gangbild verbessern, Schmerzen lindern, Gefühlsstörungen verringern, Gleichgewicht und Koordination schulen, Verkrampfungen und Spastiken lösen, vor Verschleiß als Folge asymmetrischer Belastung schützen, Stürze verhindern, Knochen- und Muskelmasse erhalten sowie gegen Depressionen und Fatigue helfen«, zählt der Neurologe auf.

Trotzdem kommt Physiotherapie oft nicht so bei Patienten an, wie es wünschenswert wäre. Das hat verschiedene Gründe. Einer davon ist der Irrglaube, dass körperliche Belastung Krankheitsschübe auslösen könnte. »Dieses Gerücht hält sich hartnäckig, obwohl es falsch ist«, betont Pöhlau. Das Gegenteil sei der Fall: Aktivität schützt und nützt – selbst dann, wenn sich manche Symptome dadurch kurzfristig verschlechtern. »Das ist ganz normal und sollte niemanden verunsichern. Schließlich geht es um den langfristig positiven Effekt.«

Einen kühlen Kopf bewahren

Physiotherapeutin Sabine Lamprecht nickt, weiß aber aus Erfahrung, dass das leichter gesagt als getan ist. Hinderlich seien zwei Besonderheiten der MS, die bei vielen Betroffenen auftreten: die motorische Fatigue, bei der insbesondere die muskuläre Leistungsfähigkeit der Beine im Verlauf von Belastung abnimmt und das sogenannte Uhthoff-Phänomen, an dem rund 70 Prozent der MS-Betroffenen leiden. Dabei verschlechtern sich unter dem Einfluss von Hitze und einer erhöhten Körpertemperatur vorübergehend die Symptome und die Leistungsfähigkeit. Wer beim Training ins Schwitzen kommt, ist also schnell betroffen – etwa von Sehstörungen, Erschöpfung oder Gehstörungen. Das macht vielen Patienten Angst. »Manche folgern dann intuitiv, dass Belastung ihnen schadet. Ein fataler Trugschluss«, sagt Lamprecht. Die Physiotherapeutin rät buchstäblich zu einem kühlen Kopf: »Sobald der Körper wieder abkühlt – sei es durch eine kühle Dusche, ein kaltes Getränk oder in einem klimatisierten Raum verschwinden die Symptome wieder.« Außerdem gebe es speziell für MS-Patienten Kühlwesten und Kühlkleidung mit integrierten Gelen, welche die Verdunstungskälte erhöhen. »Es kann sich wirklich lohnen, das mal auszuprobieren.«

Aus all diesen Gründen ist es wichtig, mit auf MS spezialisierten Physiotherapeuten zu arbeiten. Sie wissen um die Zusammenhänge und Hilfsmittel, können Patienten die Angst nehmen und die passenden Übungen auswählen, um Fortschritte zu erzielen. Eine normale Krankengymnastik-ZNS-Zertifizierung reicht dafür meist nicht aus: »Viele Therapeuten sind leider nicht auf dem neusten Stand«, sagt Lamprecht.

Auch der Mediziner Dieter Pöhlau ermuntert Patienten dazu, sich gut qualifizierte Therapeuten zu suchen: »Neurorehabilitation ist etwas anderes, als nach einer Hüftoperation wieder gehen zu lernen.« Beide raten Betroffenen, sich Zeit für die Suche zu nehmen und kritisch nachzufragen: Welche Qualifikationen gibt es? Wann war die letzte Fortbildung? Gibt es Trainingsgeräte? Kühlwesten? Übungen für daheim? Orientierungshilfe können beispielsweise der Verband Deutscher Physiotherapeuten oder
die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft bieten. »Nochmal: Physiotherapie bei MS ist Training«, sagt Lamprecht und rät: »Finger weg von allem, was nach Esoterik klingt.«

Die sorgfältige Recherche lohnt sich: »Mit einem guten Physiotherapeuten an hat man eine Art Coach an seiner Seite, der einen vom kleinen Stolpern im Alltag über die Nutzung von Hilfsmitteln wie einem Gehstock bis hin zu einem agilen Umgang mit dem Rollstuhl begleiten kann«, sagt Pöhlau. Gute Therapeuten erkennen außerdem, wo andere Disziplinen wie Ergo-, Logo- oder Psychotherapie hilfreich sein könnten.

Training lindert Entzündungen

Dass Training den Patienten nützt, ist gut belegt. Welche Mechanismen dahinterstecken, wird noch erforscht. »Da spielt wahrscheinlich vieles zusammen«, sagt Dieter Pöhlau. Etwa die Reduktion von Übergewicht und damit auch von Fettzellen, die Entzündungen begünstigen. Bewegung fördert zudem die Bildung neuer Verknüpfungen, die Neuroplastizität des Gehirns sowie Lernprozesse im Zentralen Nervensystem. Vermutlich werden durch Bewegung auch entzündungshemmende Botenstoffe ausgeschüttet.

»Wir wissen zum Beispiel, dass die Heilung von Nervenbahnen besser verläuft, wenn sie genutzt statt geschont werden. Pöhlau rät deshalb selbst während Schüben zu angepasster Bewegung in Kombination mit Medikamenten. Es gelte immer der Leitsatz: »Nicht schonen, sondern fordern.«

Schwäche meist schlimmer als Spastik

Wann immer möglich gilt für Patienten deshalb: Bewegen und Sport treiben. Sobald Probleme auftreten, etwa Gangunsicherheiten oder kleine Stolperer, sollte man sich Hilfe suchen. »Meist treten als erstes Probleme mit dem Fußheber auf«, sagt Lamprecht. Dagegen helfen zum Beispiel Nordic Walking, Joggen und Wandern. Danach schwächelt oft der Hüftbeuger, was den Gang verändert. Dagegen hilft gezieltes Training von Hüftbeugern, Oberschenkeln und Waden, etwa durch Zehenstände und einbeinige Kniebeugen. Auch das sensorische Gleichgewicht kann man verbessern, etwa durch angeleitete Übungen mit geschlossenen Augen. »Meist sind Muskelschwächen das größte Problem im Alltag«, sagt Lamprecht. Die richtigen Partien zu kräftigen, mache oft einen großen Unterschied und helfe auch gegen Spastiken. Die Physiotherapeutin macht deshalb allen Betroffenen Mut: »MS mag die Krankheit der 1.000 Gesichter sein. Aber gute Physiotherapie kennt mindestens so viele Übungen dagegen.« nh