Multiple Sklerose: Eine Frage des Alters

Mit den Jahren nimmt die Krankheitsaktivität von Multipler Sklerose in der Regel ab. Können ältere MS-Betroffene also ihre Therapie beenden?
Eine aktuelle Studie ging dieser Frage nach.

E s klingt ein bisschen verrückt: Warum sollte man eine wirksame Therapie abbrechen? Medikamente nicht mehr nehmen, die Multiple Sklerose in Schach halten? Auf die Möglichkeit verzichten, das Fortschreiten der Erkrankung zu verzögern? »Weil die Sache etwas komplizierter ist«, sagt Professor Achim Berthele, Leitender Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Klinikum rechts der Isar der TU München. Er hat immer wieder mit Patienten zu tun, die ihre Therapie beenden wollen.

Die Erkrankung ändert sich, die Therapie nicht

Die Frage, ob das aus ärztlicher Sicht vertretbar ist, wird in der Medizin seit einigen Jahren intensiv diskutiert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es immer mehr ältere Menschen mit MS gibt: Mittlerweile ist etwa die Hälfte aller Patienten älter als 55 Jahre, jeder fünfte bis siebte sogar älter als 65. Doch im Gegensatz zu der Erkrankung ändert sich ihre Therapie im Laufe der Zeit meist nicht. Ein Großteil der Betroffenen erhält eine krankheitsmodifizierende Therapie, kurz DMT (disease-modifying therapy). »Diese wird zur langfristigen Behandlung von MS eingesetzt, um die Häufigkeit und Schwere von Schüben zu reduzieren«, erklärt Berthele.

Erreicht wird das durch eine gezielte Beeinflussung des Immunsystems mit bemerkenswerter Wirksamkeit: Im Schnitt haben Betroffene zu Beginn der Erkrankung 1,8 Schübe pro Jahr, mit einer immunmodulierenden Therapie lässt sich diese Rate auf bis zu 0,1 reduzieren – das macht sie zum Standard einer modernen medikamentösen Therapie von MS. Meist wird sie nach dem ersten Schub verordnet, denn es gilt: je früher, desto besser. Danach wird die Therapie auf unbestimmte Zeit fortgesetzt, oft über Jahrzehnte. Aber ist das wirklich sinnvoll? Gilt auch der Leitsatz: je länger, desto besser?

Risiken und Nutzen neu abwägen

Dagegen spricht, dass die Krankheitsaktivität bei MS im Alter typischerweise nachlässt und die Schubrate auch ohne Medikamente sinkt. Die Effektivität immunmodulierender Therapien lässt also nach. Gleichzeitig steigt das Risiko für Nebenwirkungen. So treibt eine DMT beispielsweise das im Alter ohnehin erhöhte Infektions- oder Krebsrisiko weiter nach oben. Ein Beispiel dafür ist das gehäufte Auftreten von Gürtelrose bei MS-Erkrankten. Mit Blick auf ein alterndes Immunsystem und mehr Begleiterkrankungen müssen Nutzen und Risiken einer DMT also neu bewertet werden.

Auch die Therapielast selbst ist nicht zu unterschätzen: »Sich selbst zu spritzen und immer an die Medikamente und die Krankheit denken zu müssen, ist für viele Betroffene eine große Belastung«, sagt Berthele. Wie also umgehen mit älteren Patienten, die seit Jahren stabil sind? Kommt ein Therapieabbruch für sie in Frage? Dazu gibt es bisher nur wenige belastbare Daten – nicht zuletzt, weil die meisten klinischen DMT-Studien Patienten über 55 Jahre ausschließen.

Neue Studiendaten

Die im Juni 2023 im Fachmagazin Lancet veröffentlichte DISCOMS-Studie will das ändern. So untersuchte ein Team um den Neurologen John Corboy von der School of Medicine der Universität Colorado, wie sich ein Therapieabbruch bei älteren MS-Patienten auswirkt. Dabei handelt es sich um eine sogenannte Nichtunterlegenheitsstudie. Das Ziel besteht also darin zu zeigen, ob eine neue Behandlung zumindest nicht schlechter ist als eine bestehende.

Die Forschenden teilten dafür 250 Personen mit einem Altersdurchschnitt von 62 Jahren in zwei Gruppen: Eine setzte die Therapie fort, die andere brach sie ab. Einbezogen wurden nur Patienten, die innerhalb der letzten fünf Jahre keinen Rückfall und innerhalb den letzten drei Jahren keine neuen Läsionen im MRT zeigten. Die Ergebnisse sind weniger eindeutig, als sie auf dem ersten Blick aussehen: Innerhalb von zwei Jahren kam es bei 4,7 Prozent der DMT-Gruppe und bei 12,2 Prozent der Abbrecher zu neuen oder zunehmenden Läsionen, also Gewebeschädigungen im Gehirn.

Aber: Bezüglich der Schubrate wiesen die beiden Gruppen keine Unterschiede auf. Auch das Auftreten unerwünschter Ereignisse, zum Beispiel Infektionen der Atemwege, war vergleichbar, ebenso die Entwicklung des Behinderungsgrades. Die Studie kommt deshalb zu dem Schluss, dass die Nichtunterlegenheit eines Therapieabbruchs im Vergleich zu einer Therapie nicht belegt werden konnte. Dennoch könne ein Abbruch der DMT bei stabilen Patienten ab dem 56. Lebensjahr eine Option sein, da er die Krankheitsaktivität wohl nur gering erhöht. »Diese Ergebnisse decken sich mit unseren Erfahrungen aus der Praxis«, sagt Berthele, der sich auch in der Deutschen Gesellschaft für Neurologie engagiert.

Offen das Gespräch suchen

Was bedeutet das für Betroffene? Zunächst gilt es festzuhalten, dass mehr Untersuchungen zu den Folgen eines Therapieabbruchs bei älteren MS-Patienten mit stabilem Krankheitsverlauf erforderlich sind. Dementsprechend forderten die Autoren eines im Fachmagazin JAMA Neurology veröffentlichten Beitrags bereits 2021, mehr ältere Patienten in Studien einzubeziehen, ein breites Spektrum von DMT zu berücksichtigen und die Wirksamkeit und Sicherheit so zu analysieren, dass Risiken und Nutzen lebenspraktischer eingeschätzt werden können.

Immer im Einzelfall entscheiden

Ein Therapieabbruch sei für einige, aber längst nicht für alle älteren Patienten eine bedenkenswerte Option – soviel lasse sich jetzt schon sagen, sagt Archim Berthele. »Dafür spielen zu viele Faktoren eine Rolle, neben dem Alter zum Beispiel auch die Krankheitsdauer und der individuelle Verlauf, Begleiterkrankungen, Lebensstil und welche Medikamente genau zum Einsatz kommen.« Sein wichtigster Rat an Betroffene lautet deshalb: »Brechen Sie auf keinen Fall eigenmächtig die Therapie ab, sondern besprechen Sie Ihre Wünsche offen mit dem behandelnden Arzt.«

Das Thema sei längst in der Fachwelt angekommen, die meisten Neurologen sollten ein offenes Ohr dafür haben. Letztlich gehe es um die Frage, ab wann die Vorteile eines Abbruchs die Risiken überwögen. Berthele: »Und das lässt sich nur im Einzelfall und mit ärztlicher Unterstützung entscheiden.«