Multiple Sklerose: Das Gleichgewicht stärken

Wer an Multipler Sklerose leidet, kämpft nicht selten mit Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen. Die Beweglichkeit lässt nach, das Sturzrisiko steigt. Doch dem lässt sich vorbeugen: mit einer speziellen Physiotherapie und gezieltem Funktionstraining. Multiple Sklerose, kurz MS, geht auf eine chronische Überreaktion des körpereigenen Abwehrsystems zurück. Fehlgeleitete Immunzellen greifen die Hüllen der Nervenfasern im zentralen Nervensystem an und mindern ihre Leitfähigkeit. Die Folge: Von den Sinneszellen in der Haut und in den Gelenken erfasste Reize gelangen mit Verzögerung ins Gehirn und werden dort langsamer verarbeitet als bei gesunden Menschen. Betroffene sind in ihrem Gleichgewichtsempfinden beeinträchtigt, können ihren Körperschwerpunkt nicht mehr zuverlässig wahrnehmen und haben Probleme, ihre Bewegungsabläufe zu koordinieren. Oft sind diese Einschränkungen die ersten Anzeichen der Autoimmunkrankheit.

So war es auch bei Annika, die vor neun Jahren nach einer Odyssee durch orthopädische und neurologische Kliniken die Diagnose MS erhielt: »Ich konnte von einem Tag auf den anderen nicht mehr richtig laufen«, erinnert sich die junge Frau, die mittlerweile als Reporterin für die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft DMSG auf Youtube über ihre Erfahrungen mit MS berichtet. Annika konnte ihr Bein nur noch schwer anheben, weshalb sie ständig stolperte: »Außerdem bin ich gegen Tischkanten und Türrahmen gelaufen, weil ich die Entfernungen und meine Position zu den Gegenständen nicht mehr richtig einschätzen konnte.«

Seit Annika von ihrer Erkrankung weiß, kann sie viele ihrer Beschwerden durch Medikamente lindern. »Andere Symptome begleiten mich täglich. So kann ich zum Beispiel nicht besonders gut auf einem Bein stehen, schon gar nicht hüpfen; vor allem mit geschlossenen Augen klappt das nicht. Außerdem bin ich insgesamt unsicherer im Gehen geworden, vor allem draußen, wenn da Wurzeln oder angehobene Gehwegplatten sind.« Einmal ist sie mit dem Fahrrad mitten auf der Straße umgekippt; deshalb will sie sich nun ein Dreirad für Erwachsene anschaffen: »Das sieht vielleicht nicht mehr so cool aus wie Fahrradfahren, aber dafür hilft es mir, mobil zu bleiben.«

Stark erhöhte Sturzgefahr

Viele MS-Erkrankte haben ähnliche Probleme wie die junge Frau. Vor allem das Risiko zu stürzen ist für diese Patientengruppe außergewöhnlich hoch, wie aus einer italienischen Studie hervorgeht. In der Veröffentlichung im Fachjournal Archives of Physical Medicine and Rehabilitation geben 51 von 111 befragten Betroffenen an, innerhalb von sechs Monaten mindestens einmal hingefallen zu sein.

Jegliche Hektik vermeiden

Um Stürzen und daraus resultierenden Verletzungen vorzubeugen, hat sich Annika ein achtsameres Gehen angewöhnt. Sie hält nach möglichen Problemstellen Ausschau, um gar nicht erst ins Stolpern zu kommen. Sicherheitshalber trägt sie drinnen wie draußen stets festes Schuhwerk. In ihrer Wohnung hat sie potenzielle Stolperfallen wie Teppiche und herumliegende Kabel entfernt. Vor allem aber versucht sie, jegliche Hektik zu vermeiden und mehr Zeit für die täglichen Verrichtungen einzuplanen – im Beruf ebenso wie bei Freizeitaktivitäten. Sie empfiehlt allen, die an Gleichgewichtsstörungen leiden, es ihr gleichzutun. Mit solchen Vorsichtsmaßnahmen ist schon viel gewonnen. Noch besser können sich von MS Betroffene vor Stürzen und Verletzungen schützen, indem sie ihr gestörtes Gleichgewicht trainieren. Zu diesem Schluss kommt ein italienisches Forscherteam nach Auswertung von 71 wissenschaftlichen Studien in einer sogenannten Metastudie, die den Effekt neurologischer Rehabilitationsmaßnahmen auf Mobilität und Gleichgewicht bei insgesamt 3.306 Menschen mit MS prüfte. Wie das Team im Fachjournal Multiple Sclerosis and Related Disorders darlegt, reichten die Maßnahmen von verschiedenen Sportprogrammen über Computer-Fitnessspiele bis hin zu physiotherapeutischem Stabilitätstraining mit Yoga und Pilates.

Bei 20 Studien der Meta-Untersuchung mit insgesamt 1.016 MS-Erkrankten standen Reha-Maßnahmen zur Gleichgewichtsverbesserung im Mittelpunkt. Die besten Ergebnisse erzielten der Auswertung zufolge Therapieeinheiten von mindestens 40 Minuten, die auf die Bewältigung bestimmter Aufgaben ausgerichtet waren. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass intensive und aufgabenspezifische Rehabilitationsmaßnahmen zur Verbesserung von Mobilität und Gleichgewicht für Menschen mit MS empfehlenswert, sicher und wirksam sind.

Die DMSG empfiehlt ein Funktionstraining, das für Menschen mit Multipler Sklerose entwickelt wurde und regelmäßig in einer Gruppe absolviert werden kann. Es besteht aus bewegungstherapeutischen Übungen, die krankheitsbedingte Funktionsverluste ausgleichen oder ihnen entgegenwirken, Schmerzen lindern und zur Selbsthilfe anleiten. Ziel ist es, Menschen mit MS möglichst lange mobil zu halten. Aber auch Personen mit anderen chronischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Neuropathien können von einem Funktionstraining profitieren. Teilnehmen können alle Betroffenen, egal, ob sie frei oder mit einer Gehhilfe laufen, im Rollstuhl sitzen oder an unsichtbaren Symptomen wie dem Fatigue-Syndrom leiden.

Eine Übungseinheit dauert 45 Minuten und umfasst vor allem reflexbasierte Bewegungen, berichtet Sportwissenschaftlerin Dr. Stephanie Woschek, die beim DMSG-Bundesverband das Funktionstraining koordiniert: »Dabei sollen die Teilnehmenden auf Signale reagieren und bestimmte Schrittkombinationen oder rhythmische Bewegungen machen oder mit den Händen Gegenstände werfen und auffangen. Wichtig ist, dass Drucksensoren an den Füßen angeregt werden, denn das veranlasst den Körper zur Produktion von Nervenbotenstoffen.«

Auf individuelle Fähigkeiten abgestimmt

Die Funktionstrainer, darunter fortgebildete Physio-, Ergo- und Sporttherapeuten, seien darin geschult, den Schwierigkeitsgrad der Übungen auf die individuelle Leistungsfähigkeit der Teilnehmenden abzustimmen, erläutert Woschek: »Es sind Übungen dabei, die man sowohl im Sitzen als auch im Stehen machen kann. Für Teilnehmende, die zum Beispiel die Arme nicht mehr gut hochheben können oder vom Boden nicht allein hochkommen, gibt es modifizierte Übungen.«

Funktionstraining in der Gruppe

Mitmachen kann im Prinzip jeder Interessierte – entweder in Präsenz in einer bestehenden Trainingsgruppe oder auch online. Die Kurse sind so aufgebaut, dass man jederzeit einsteigen kann, sofern ein Platz frei ist; die DMSG hilft bei der Suche nach einem passenden Angebot. MS-Erkrankte können im Rahmen der neurologischen Rehabilitation ein Funktionstraining verordnet bekommen, in der Regel einmal pro Woche für zwölf Monate; Folgeverordnungen für ein oder zwei Jahre sind möglich.« mo