Epilepsie: Der erste Anfall – und jetzt?!

Sie sind peinlich und machen Angst: Plötzliche Krampfanfälle in der Öffentlichkeit, unkontrollierte Schreie, Schaum auf den Lippen – die ständige Angst vor Aussetzern schränkt das Leben der Betroffenen drastisch ein: Beruf, Sport, Autofahren – das ist oft nicht mehr möglich. Doch muss der erste Anfall nicht gleich chronisch sein und Dauertherapie bedeuten. NTC Impulse im Gespräch mit Dr. Thomas Lange, Neurologe mit Schwerpunkt Epilepsie.

Herr Dr. Lange, wie kommt es zu einem ersten epileptischen Anfall?

Es gibt dafür verschiedene Gründe. Zunächst einmal muss geklärt sein, dass es sich auch um einen epileptischen Anfall handelt und nicht einen Anfall mit anderer Ursache. Ist das sicher, dann stellt sich die Frage, ob der erste Anfall der Beginn einer Epilepsie ist, also einer chronischen Krankheit. Denn wenn weitere Anfälle folgen, bedarf es einer medikamentösen Therapie. Ebenso ist es aber auch möglich, dass es sich um einen Gelegenheitsanfall handelt.

… der zufällig passiert?

Nein, nicht zufällig! Gelegenheitsanfall bedeutet nicht, dass ein Anfall ab und zu auftritt, sondern dass er bei bestimmten Gelegenheiten ausgelöst werden kann. Oft kommt es zu einem Anfall in bestimmten Situationen, in denen auslösende Faktoren eine Rolle spielen. Das sind typischerweise: Schlafentzug, Alkoholkonsum, das Einnehmen von Drogen, die Anfälle auslösen können, und auch Fieberkrämpfe. Fieber als Auslöser kommt vor allem bei Kindern und Jugendlichen vor. Eine weitere „Gelegenheit“ kann auch eine akute Erkrankung sein: zum Beispiel eine Hirnentzündung – Enzephalitis, Meningitis – oder eine Kopfverletzung. Nach Abklingen der ursprünglichen Erkrankung hören die Anfälle dann häufig wieder auf. Typisch ist, dass sich der Gelegenheitskrampf zu Beginn einer akuten Erkrankung ereignet.

Wer gehört zur Risikogruppe für Gelegenheitsanfälle?

In letzter Konsequenz ist es unter Extrembedingungen möglich, dass so eine elektrische Entladung im Gehirn, die Epilepsie auslöst, bei jedem Menschen provoziert werden kann. Theoretisch kann jeder unter bestimmten Bedingungen einen epileptischen Anfall erleiden. Dabei kommt es immer zu Erregungssteigerungen im Gehirn. Davon sind Männer und Frauen, Jüngere und Ältere gleichermaßen betroffen, wenn die auslösenden Faktoren zutreffen.

Wie lässt sich die Ursache eines Anfalls bestimmen?

Zunächst messen wir die Hirnstromkurve (EEG). So lässt sich die hirnelektrische Aktivität beurteilen und möglicherweise können wir krampfspezifische Potentiale nachweisen. Wir sehen, ob ein epileptischer Anfall stattfindet oder eine Neigung zu weiteren Anfällen besteht. Je früher ein EEG nach einem Anfall gemacht wird, desto besser. Denn dann ist die Möglichkeit größer, krankhafte Muster im EEG zu finden und die mögliche Ursache des Anfalls zu erkennen: Ist eine Erregungssteigerung messbar? Dann könnte sich ein weiterer Anfall ereignen: Der Verdacht auf eine Epilepsie liegt nahe. In der Kernspintomographie (MRT) untersuchen wir zusätzlich das Gehirn auf strukturelle Veränderungen, zum Beispiel Verletzungen oder Tumore. Wichtig ist schließlich auch, was der Betroffene und mögliche Zeugen berichten: Wie genau ist der Anfall abgelaufen? Was ist vorher passiert? Gab es Vorzeichen, zum Beispiel ein Kribbeln in Arm oder Bein? Möglicherweise handelt es sich um eine fokale Epilepsie. Dabei kann ein Anfall mit scheinbar geringen neurologischen Symptomen beginnen, sich aber auch ausweiten zu einer generalisierten Epilepsie (Fokale Epilepsie, siehe Seite 9).

Wann lautet die Diagnose Epilepsie?

Unter der Krankheit Epilepsie versteht man das wiederholte Auftreten epileptischer Anfälle. Doch das Erstellen der Diagnose ist nicht einfach, sogar umstritten: Die einen Neurologen vertreten die Ansicht, dass ein mehrmaliges Auftreten von Anfällen notwendig ist, um von Epilepsie zu sprechen. Andere setzen deutlich früher an und stellen eine Epilepsie fest, weil sich bereits bei der Gehirnuntersuchung eine erhöhte Anfallsbereitschaft abzeichnet – ohne dass es bereits zu weiteren Anfällen gekommen ist.

In meiner Praxis gehe ich so vor: Wenn ich einen Patienten habe, der den ersten Anfall erlebt hat, und es sich zeigt, dass weitere Anfälle folgen könnten, dann empfehle ich den Beginn einer medikamentösen Behandlung mit dem Ziel, die Entwicklung einer Epilepsie mit weiteren Anfällen zu verhindern. Es ist nicht offensichtlich, eine Epilepsie festzustellen, wenn jemand erst einen Anfall hatte.

Wann ist eine Therapie mit Medikamenten nötig?

Eine Behandlung mit Medikamenten ist dann nötig, wenn es keine auslösenden Mechanismen für den Anfall gab, wir also einen Gelegenheitsanfall ausschließen können. Handelt es sich zum Beispiel um den ersten generalisierten Grand-Mal-Anfall, liegt eine Wiederholungsrate von 30 bis 50 Prozent innerhalb von zwei Jahren vor, das heißt: Fast jeder zweite Betroffene erleidet mindestens einen weiteren Anfall in den folgenden zwei Jahren. Da müssen wir im Einzelfall bei jedem schauen: Sollte man mit einer medikamentösen Behandlung beginnen oder nicht? Der Patient muss mitentscheiden: Will er das Risiko eingehen oder möglichst verhindern? Das hängt von der Situation des Einzelnen ab und auch von den Wünschen des Patienten. Als behandelnder Neurologe ist es meine Aufgabe, das Risiko genau zu erklären, damit der Patient eine Entscheidung treffen kann.

Welche Folgen hat die Diagnose Epilepsie?

Die Situation des Einzelnen ist auch für den Arzt wichtig zu beurteilen. Beispiel: Berufskraftfahrer, die Personen befördern, dürfen nach der Diagnose erstmaliger unprovozierter epileptischer Anfall ohne Anhaltspunkte für eine beginnende Epilepsie zwei Jahre lang keine Personen befördern. Wenn jemand dauerhaft Antiepileptika einnimmt, dann darf er keine Personen befördern. Er müsste nach Absetzen der Medikamente fünf Jahre ohne Anfall bleiben, um die Erlaubnis zurückzubekommen.

Darf ich nach einem ersten Anfall Autofahren?

Einen privaten PKW zu führen ist erlaubt, wenn man für ein Jahr anfallsfrei bleibt und keine Risikofaktoren für das Auftreten erneuter Anfälle bestehen. Nach einem Gelegenheitsanfall sollten Betroffene drei Monate lang das Auto stehen lassen. Als Arzt muss ich das nicht melden, sage aber deutlich: »Augen zu und durch« geht nicht. Das denkbar Schlechteste ist, im Alleingang zu handeln. Damit gefährdet man sich selbst und andere!

Worauf sollten Betroffene außerdem achten?

Das Problem der Therapietreue ist bei einer voraussichtlichen Epilepsie groß. Die Motivation zur dauerhaften Einnahme der Medikamente sinkt enorm, wenn sich monatelang nach dem ersten Anfall kein weiterer ereignet. Der behandelnde Neurologe sollte Ansprechpartner des Vertrauens bleiben. Er kann auch regionale Selbsthilfegruppen empfehlen. Meine Erfahrung ist, dass es gerade für Jüngere wichtig ist, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.

Dr. med. Thomas Lange
Facharzt für Neurologie, Lüneburg