Multiple Sklerose: Therapietreue – Individuelle Patientenwünsche sind entscheidend

Viele Patienten mit Multipler Sklerose brechen ihre Therapie ab, weil sie keine Wirkung verspüren oder mit den Nebenwirkungen nicht leben möchten. Doch nur mit einer langfristigen Behandlung und konsequentem Durchhalten lässt sich die Erkrankung in den Griff bekommen. Worauf es bei der Therapietreue ankommt, erläutert NTC-Neurologe Dr. Michael Lang aus Ulm.

Interview: Anne Göttenauer

Herr Dr. Lang, was sind die Ziele der MS-Therapie?

Da eine Heilung von Multipler Sklerose derzeit nicht möglich ist, ist das Hauptziel einer Behandlung, dass sich die Krankheit stabilisiert. Das heißt, der Patient sollte möglichst frei von Schüben sein, damit körperliche Behinderungen, wie Lähmungen, Taubheitsgefühle oder Sehstörungen, weitgehend vermieden werden können und ein Fortschreiten der Krankheit ausbleibt. Wichtig ist mir hierbei, dass man auch bei den Patienten, die klinisch stabil zu sein scheinen, immer auch einen Blick auf das Kernspintomogramm werfen sollte. Wenn sich dieses verschlechtert, auch wenn der Patient zunächst keine Veränderung spürt, ist das dennoch ein Parameter, der uns Anlass geben sollte, über die aktuelle Therapie nachzudenken.

Zu diesen klinischen Zielen kommt, dass der Betroffene so wenig wie möglich therapiebedingte Belastungen hat, etwa in Form von Nebenwirkungen, er geistig und körperlich soweit leistungsfähig ist, dass er seinen Alltag managen und vor allem genießen kann – sei es mit einem Beruf, mit der Familie und in der Freizeit. Insgesamt sollte eine Therapie die Lebensqualität spürbar steigern.

Welche Faktoren spielen für den Behandlungserfolg eine Rolle?

Bei MS kommt es darauf an, dass die Therapie so früh wie möglich begonnen wird. Wir wissen, dass – wenn die Krankheit schon weiter fortgeschritten ist, also der sogenannte EDSS (Expanded Disability Status Scale), der den Schweregrad der Behinderung angibt, höher als 3 liegt–die Krankheit dann bei den meisten Patienten mehr oder weniger uniform weiterläuft. Während man zu Beginn der Krankheit–zwischen 0 und 3–noch Chancen hat, den Verlauf mit der Therapie wesentlich zu beeinflussen und zu verlangsamen. Das liegt daran, dass die Behandlungsmöglichkeiten bzw. -schwerpunkte heutzutage in erster Linie in der Behandlung der Entzündungen liegen. Des Weiteren muss jede Therapie individuell auf den Krankheitsverlauf des Patienten zugeschnitten und möglichst patientenfreundlich, das heißt, einfach und verständlich in der Anwendung sein und möglichst wenige Nebenwirkungen haben.

Treten unter der Basistherapie weiterhin Schübe auf, muss rechtzeitig eine stärker wirksame Eskalationstherapie, unter anderem durch monatliche Infusionen, in Betracht gezogen werden, um die Krankheit wieder unter Kontrolle zu bekommen. Auf jeden Fall ist die Entscheidung für eine Therapie von den individuellen Wünschen und Bedürfnissen eines Patienten abhängig – in Bezug auf Alltag, Familie und Freizeit. Es nützt nichts, dem Patienten eine Therapie »aufzudrücken«, die nicht zu seiner Lebenssituation passt. Wenn sich der Patient in seinen Wünschen nicht berücksichtigt fühlt, neigt er eher dazu, seine Therapie abzubrechen oder Pausen einzulegen. Dadurch kann sich sein Gesundheitszustand allerdings ernsthaft verschlimmern.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Autonomie des Patienten?

Der Patient nimmt heute eine andere Rolle ein. Früher waren Ärzte die Allwissenden, die eine für den Patienten ihrer Meinung nach passende Therapie festgelegt haben. Der Patient hat diese akzeptiert. Heute haben sich die Ansprüche von Betroffenen an eine Behandlung geändert. Die Therapie muss nicht nur wirksam, sondern auch gut verträglich und in ihrer Handhabung möglichst gut in den Alltag zu integrieren sein. Daher gilt für den Arzt, seinem Patienten alle in Frage kommenden Therapien aufzuzeigen – mit allen Vor- und Nachteilen. Dann wird gemeinsam entschieden, welche Behandlung durchgeführt wird. Entscheidend für diese Patientenautonomie ist, dass der Patient die Erkrankung mit allen ihren Auswirkungen versteht. Nur dann hat er auch ein Kontrollgefühl über die Krankheit und ist ihr nicht ausgeliefert. Anders gesagt: Der Patient, der versteht, ist auch in der Lage, seine Therapie mitzugestalten. Viele Patienten sind heutzutage schon sehr viel besser über ihre Erkrankung informiert. Neben vielen seriösen Internetseiten helfen auch Patientenschulungen dabei, alle relevanten Aspekte der Erkrankung zu erfassen und Maßnahmen für den Alltag zu erlernen.

Wie wichtig ist ein aufgeklärter Patient auch für die Therapietreue?

Unerlässlich für den Erfolg einer Therapie ist, dass der Patient die entsprechende Behandlung regelmäßig und langfristig anwendet, also etwa jeden Tag seine Medikamente nimmt oder sich wöchentlich einen Wirkstoff spritzt. Auch eine mögliche Änderung des Lebensstils gehört dazu.

Früher haben wir Ärzte also versucht, die sogenannte Compliance zu verbessern. Dabei handelt es sich um das »Einverständnis« in eine Therapie, das heißt, der Patient erklärt sich mit der ihm, vom Arzt vorgegebenen Therapie einverstanden und wendet diese regelmäßig an. Heute wissen wir, dass eine Therapie nur dann funktionieren kann, wenn der Patient nicht nur einverstanden, sondern auch aktiv am Prozess der Therapiefindung beteiligt ist. Eine solche aktive Rolle in der Therapieentscheidung bevorzugen Umfragen zufolge 80 Prozent aller Patienten. Führt eine Zusammenarbeit von Arzt und Patient zu einer Übereinstimmung in der Verschreibung einer Behandlung, ist der Patient eher gewillt, diese über einen langen Zeitraum regelmäßig durchzuführen. Wir sprechen in diesem Fall von einer guten Adhärenz – die Therapietreue ist entscheidend für den Therapieerfolg.

Was sind mögliche Gründe dafür, dass Patienten die Therapie abbrechen?

Etwa 45 Prozent aller MS-Patienten brechen die Therapie im ersten Jahr ab, wobei die ersten drei bis sechs Monate meist entscheidend sind. Körper und Seele müssen sich erst auf die Therapie einstellen und zu dieser Zeit treten die stärksten Nebenwirkungen auf.

Neben dem Eindruck, dass die Therapie gar nicht wirkt, sind unerwünschte Nebenwirkungen,wie Kopf- oder Muskelschmerzen, Fieber, Grippesymptome oder Schwäche, die häufigsten Gründe, dass Patienten die Therapie eigenmächtig beenden. Dazu können Depressionen und Stimmungsschwankungen kommen, aber auch finanzielle Gründe, die Angst vor Spritzen oder die komplizierte Verabreichung einer Therapie. Manche Patienten fühlen sich von ihrem Arzt aber auch zu schlecht aufgeklärt und betreut, haben schlichtweg keine Lust mehr oder vergessen, regelmäßig an die Behandlung zu denken.

Wie lässt sich die Therapietreue verbessern?

Die Betroffenen sollten wissen, dass die meisten Nebenwirkungen nach etwa sechs Monaten nachlassen. Viele Nebenwirkungen können zudem durch ein gutes Management der Therapie gemindert und Begleiterkrankungen wie Depressionen effektiv behandelt werden. Auch müssen die Therapien patientenfreundlich in Bezug auf Anwendung und Integrierbarkeit in den Alltag sein und Unsicherheiten bezüglich der Wirksamkeit durch intensive Aufklärung aus der Welt geschafft werden. Voraussetzung für die Verbesserung der Therapieakzeptanz ist daher eine gute und engmaschige Betreuung der Patienten durch Ärzte und auch MS-Schwestern. Während es die Hauptaufgabe des Arztes ist, den Patienten über alle Aspekte einer Therapie zu informieren und gemeinsam realistische Therapieziele festzulegen, können die MS-Schwestern weitere wichtige Ansprechpartner der Erkrankten sein. Dafür übernehmen sie in der Praxis immer mehr Aufgaben: Neben der Schulung der Patienten bezüglich der Medikation können sie wichtige Fragen zur Therapie beantworten und den Kontakt mit den Betroffenen halten. Dazu gehört auch, dass die MS-Schwester Probleme ansprechen kann, von denen der Patient womöglich nicht weiß, dass sie mit der Erkrankung zusammenhängen, wie Fatigue, das Uhthoff-Phänomen oder auch Blasenstörungen. Insgesamt kann eine gute Zusammenarbeit von Arzt, MS-Schwester und Patient die Therapietreue verbessern und dazu beitragen, dass die Therapie erfolgreich ist, die Erkrankung im Zaum gehalten wird und sich somit die Lebensqualität des Patienten verbessert.

Herr Dr. Lang, haben Sie vielen Dank für das informative Gespräch.



Dr. med. Michael Lang
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Ulm