Chronisch krank – Wie gehe ich mit der Diagnose um?

Die Diagnose einer Erkrankung mit einem möglichen chronischen Verlauf, ist für viele Betroffenen ein Schock. Neben den Symptomen und Fragen zu Therapiemöglichkeiten bereiten auch die Auswirkungen der Krankheit auf den Alltag oft Sorgen. Wie unterschiedlich Patienten mit einer Diagnose umgehen und was man tun kann, um sie zu verarbeiten, erläutert NTC-Ärztin Dr. Monika Körwer, Grevenbroich.

Interview: Anne Göttenauer

Was bedeutet die Diagnose »chronisch krank« für die Psyche, sei es bei MS, Parkinson oder Alzheimer-Demenz?

Menschen, die von einer solchen Diagnose erfahren, spüren die Betroffenheit in unterschiedlicher Weise. Bei einigen entstehen ausgeprägte Stressgefühle, die einen schockähnlichen Zustand herbeiführen können, der verarbeitet werden muss. Durch diese kritische Lebenssituation und die entsprechende Belastung wird ein Gefühl von Überforderung und Hilflosigkeit ausgelöst. Diese Menschen bemerken plötzlich, dass sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln in der neuen Situation nicht zurechtzukommen. Neben den spezifischen Beschwerden der neuen Erkrankung können sich nun zusätzlich Stressbeschwerden einstellen. Diese führen nicht selten zu Verhaltensänderungen, welche die Beziehungen zu Angehörigen, Freunden und Kollegen belasten. Eine solche Nachricht stellt aus ärztlicher Sicht eine Herausforderung dar.

Inwieweit spielt bei der Bewältigung die Persönlichkeit eine Rolle?

Im Grunde genommen spiegeln sich in der Verarbeitung von Diagnose und Krankheit genau diejenigen Verhaltensmuster wieder, die sich die Patienten in ihrem gesamten Leben im Umgang mit Stress angeeignet haben. Diesbezüglich hat jeder Mensch seine individuellen Prägungen.

So gibt es Patienten, die verfallen mehr und mehr in Lethargie und Resignation. Sie haben die grundsätzliche Ansicht, dass so etwas immer nur ihnen passiert und gerade sie nie Glück im Leben haben. Es kann auch vorkommen, dass Patienten wegen der Diagnose Schamgefühle entwickeln oder sogar denken, sie wären daran in irgendeiner Form schuld. Diese Betroffenen möchten erst mal, dass niemand davon erfährt, auch nicht ihre Angehörigen. Dabei ist es bei jeder Erkrankung wichtig, jemanden zur Unterstützung an seiner Seite zu haben.

Die Angst vor einer Ausgrenzung am Arbeitsplatz oder sogar dessen Verlust kann eine große Rolle spielen. Es gibt auch Patienten, welche die Krankheit komplett verdrängen und sich nicht damit auseinandersetzen möchten. Sie können nicht akzeptieren, dass ihr Leben nun anders verläuft als gedacht. Manche reagieren auf diese Erkenntnis aber auch regelrecht panisch. Das liegt vor allem an der Angst vor dem Unbekannten.

Es gibt aber auch viele Betroffene mit einem aktiven Bewältigungsmuster. Sie wollen über jedes Detail der Krankheit aufgeklärt werden und informieren sich auch selbst, was für sie ab sofort das Beste ist und was sie im Kampf gegen die Erkrankung tun können. Diese Patienten sind meistens bei der Verarbeitung der Diagnose sehr erfolgreich und brauchen kaum zusätzliche Hilfe. Sie erlauben sich, Lernende zu sein und neue Verhaltensweisen zur Unterstützung der Krankheitsbewältigung zu erproben.

Wie kann der Arzt auf die Patienten eingehen?

Unsere Aufgabe ist es, neben den ersten Beratungen zu spezifischen Aspekten von Krankheit und Therapiemöglichkeiten relativ schnell zu erkennen, wie stabil das Befinden des Patienten ist. Es ist hilfreich zu wissen, welche Faktoren in seinem Umfeld entscheidend sind, wie stabil die Bindungen in der Familie oder im Beruf sind, welche Konstellationen einen psychischen Schutz darstellen bzw. welche zusätzlichen Stress bedeuten. Es geht also darum zu erfassen, über welche sogenannten Resilienzfaktoren, das heißt über welche individuelle seelische Widerstandsfähigkeit er verfügt. Diese Fähigkeiten sind hilfreich, um Krisen auch mithilfe persönlicher und sozialer Ressourcen zu meistern.

Zu Beginn ist es notwendig, Möglichkeiten zur Akzeptanz der neuen Situation zu erarbeiten. Dann können Ansätze zur Ermutigung und zum achtsamen Umgang mit sich selbst hilfreich sein. Anhand der ersten Einschätzung zur Art und Weise der bisherigen Krankheitsverarbeitung können wir dann mit dem Patienten erste Strategien – sogenannte Coping-Maßnahmen – entwickeln. Durch deren Anwendung kann er lernen, die neue belastende Situation zu managen. Wenn ihm das gelingt, lässt sich das Risiko einer übermäßigen Stressbelastung oder Depression als Begleit-erscheinung der eigentlichen Grunderkrankung minimieren.

Welche Strategien kommen diesbezüglich in Frage?

Auch in diesen psychischen Ausnahmesituationen empfehlen sich Verhaltensweisen, die grundsätzlich zum Stressabbau beitragen. Dazu gehören die grundlegende Aspekte: Entspannung und Erholung – auch in Form von regelmäßigem Schlaf, Bewegung und Sport, gesunde Ernährung und nicht zuletzt positives Denken und emotionales Stressmanagement. Ist der Patient in der Lage, in diesen Bereichen einen gesunden und achtsamen Lebensstil zu entwickeln, kann dies dazu beitragen, mit der besonderen Lebenssituation umgehen zu lernen und vor allem aktiv zu bleiben.

Diesen Punkt vergessen nämlich einige Patienten: Sie denken, dass mit der Diagnose ihr bisheriges Leben beendet ist, alles nun nur schlechter werden kann. Folglich ziehen sie sich zurück. Stattdessen ist es jedoch eher ausgleichend, sich aktiv mit der Krankheit auseinandersetzen und Wege zu einem Alltag mit zufriedenstellender Lebensqualität zu finden.

Diesbezüglich ist der umsichtige und achtsame Umgang mit sich selbst der Schlüssel. Der Betroffene erkennt, für sich und seine Gesundheit verantwortlich zu sein. Er erlaubt sich, die Gedankenstile zu verändern, die ihn eher blockieren als unterstützen. Er lernt, auf seine Gefühle und Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Er gibt Dingen im Alltag Raum, die ihm gut tun. Auch anderen Personen – Familie, Freunden oder Arbeitskollegen–gegenüber dürfen die eigenen körperlichen und seelischen Grenzen abgesteckt werden. Achtsamkeitsübungen haben also viel damit zu tun, sich persönlich in einem guten Gleichgewicht zu halten. Da dieser Aspekt im Gesundheitsmarkt inzwischen auch immer wichtiger bezüglich der Prävention von Krankheiten bzw. Folge-erkrankungen, wie einer Depression bei MS, wird, findet man Anleitungen für entsprechende Maßnahmen u. a. im Internet. Zudem werden von den auf verschiedene Krankheiten spezialisierten Gesellschaften, wie der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, oder regionalen Selbsthilfegruppen regelmäßige Projekte angeboten, die sich damit befassen, Körper und Geist zu stärken, um der Krankheit entgegenzutreten.

Wie wichtig ist ein aufgeklärter Patient?

Natürlich ist es unerlässlich, dass alle Betroffenen über sämtliche Aspekte ihrer Erkrankung Bescheid wissen, sei es über Symptome, Therapien sowie über mögliche Auswirkungen für seinen Alltag. Nur so fühlt sich der Patient der Krankheit nicht hilflos ausgeliefert. Dazu ist auch die sogenannte Psychoedukation sehr hilfreich. Dabei handelt es sich um das Prinzip, mehrere Patienten in Gruppen gemeinsam über ihre Erkrankungen zu informieren und zum Erfahrungsaustausch zu motivieren. Dies kann insbesondere kurz nach der Di-agnose vielen Patienten Sorgen nehmen und eine erste Akzeptanz für die Erkrankung schaffen. Neben der Erkenntnis, mit der Krankheit nicht alleine zu sein, bieten solche Treffen erste Möglichkeiten, mit anderen Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Zudem stellen andere vielleicht Fragen, die man sich selbst nicht traut zu stellen. Somit findet eine gegenseitige Aufklärung und auch Unterstützung statt. Solche Gruppentreffen werden auch in Neurologie- und Psychiatriepraxen veranstaltet, um über die Sprechstunde hinaus den Patienten Hilfe anzubieten.

Frau Dr. Körwer, vielen Dank für das nette Gespräch.

Dr. med. Monika Körwer
Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Neuro-Centrum am Kreiskrankenhaus, Grevenbroich