Schmerz: Schmerz ist mein Kumpel

Etwa 350.000 Kinder in Deutschland leiden unter chronischen Schmerzen, das heißt, unter andauernden oder immer wiederkehrenden Schmerzen, die ihren Alltag und ihre Lebensqualität erheblich einschränken und nicht selten auch zu psychischen Problemen führen. Vielen dieser Kinder kann im Deutschen Kinderschmerzzentrum in Datteln geholfen werden.

Mein Fuß hat mir einfach nicht mehr gehorcht, nicht das gemacht, was ich wollte«, erinnert sich Tim. Der 13-Jährige musste seit Ende letzten Jahres mehrere Monate an Krücken gehen, litt über ein halbes Jahr unter dem sogenannten komplexen regionalen Schmerz-Syndrom (CRPS, auch Morbus Sudeck), dessen Ursachen bislang weitgehend unbekannt sind. Bei Erwachsenen tritt die seltene neurologische Erkrankung meist nach Knochenbrüchen oder Operationen auf, häufig im Unterarm und in der Hand. Bei Kindern sind dagegen mehr die Füße betroffen: Nach einer oft harmlosen Verletzung sind die Gliedmaßen plötzlich deutlich geschwollen, die Haut verändert sich, wird rot und heiß und der Schmerz wird so stark, dass die betroffenen Kinder selbst einen Lufthauch als unerträglich empfinden. Das war auch bei Tim der Fall. Nach einer Verstauchung des Fußes im vergangenen September und zwei Monaten mit Gips wurden die Schmerzen nicht besser und der behandelnde Orthopäde war ratlos.

Schnelle Hilfe ist wichtig

Während für viele Kinder mit chronischen Schmerzen in dieser Situation eine regelrechte Ärzte-Odyssee beginnt, bevor sie kompetente Hilfe finden, hatte Tim Glück im Unglück: Von einer auf Schmerzen bei Erwachsenen spezialisierten Klinik wurde ihm und seiner Familie schnell geraten, sich an das Deutsche Kinderschmerzzentrum in Datteln zu wenden – eine deutschlandweit einmalige Schmerzklinik extra für Kinder.

Durch die Nähe zu ihrem Wohnort Bochum war es Tim möglich, einen zeitnahen Termin in der Schmerzambulanz wahrnehmen und mit der Therapie seiner Schmerzen beginnen zu können. Der erste Besuch in Datteln war aber erst mal ein Schock, so Tims Mutter Nina M. Während wir gehofft hatten, dass Tim nach der langen Zeit mit Gips die Schmerzen schnell los wird, wurde uns gesagt, dass die Behandlung des CRPS ziemlich langwierig ist und sich Tim eventuell auf weitere Monate mit Schmerzen und Einschränkungen einstellen müsste. Das hat ihn natürlich sehr frustriert.

Dennoch konnte Tim bereits in diesem ersten Gespräch mit Ärzten und Therapeuten des Zentrums geholfen werden: Man hat mir ganz genau erklärt, was ich habe und warum mein Fuß sich so komisch anfühlt. Dann hat man mir erste Techniken beigebracht, mit denen ich mich durch starke Konzentration vom Schmerz ablenken kann, wie die ABC-Übung, bei der ich mir zu allen Buchstaben des Alphabets zum Beispiel Tiere oder Städte überlegen muss. Dies konnte ich zuhause üben, bevor ich einige Zeit später für fünf Wochen in die Klinik gegangen bin.

Vielfältige Therapie

Im Kinderschmerzzentrum werden jährlich 1.400 Kinder und Jugendliche ambulant behandelt, ca. 230 werden stationär aufgenommen. Dabei handelt es sich neben Betroffenen mit CRPS vor allem um Kinder mit chronischen Bauch-, Kopf oder Rückenschmerzen. Leider nehmen chronische Schmerzen bei Kindern zu und viele sind deshalb nicht in der Lage, zur Schule zu gehen, Freunde zu treffen oder sportlich aktiv zu sein, so Prof. Dr. med. Boris Zernikow, Leiter des Dattelner Schmerzzentrums. Umso wichtiger sei eine optimale Therapie der jungen Patienten.

Ein wesentlicher Baustein der Behandlung ist die Physiotherapie, bei der die Kinder lernen, die schmerzenden Gelenke wieder zu bewegen. Bei Kindern mit CRPS muss man beispielsweise ganz langsam anfangen, indem sie erst mal wieder lernen müssen, Berührungen zuzulassen, dann sanfte Bewegungen, erklärt Prof. Zernikow. Sie müssen erkennen, dass Ruhe und Schonung bei chronischen Schmerzen nicht helfen, sondern Bewegung wichtig ist. Bei Ruhe habe man Zeit, sich mit dem Schmerz zu beschäftigen – ein Fehler, der es zulässt, dass sich der Schmerz im Gedächtnis festsetzt und dadurch verstärken kann.

Nicht an den Schmerz denken

Daher ist Ablenkung auch eine weitere Strategie, die den Kindern beigebracht wird, um den Schmerz zu überlisten. Habe man erst mal gelernt, dass das Schmerzgedächtnis kleiner wird, wenn man sich vom Schmerz ablenkt und nicht mehr daran denkt, sei dieser laut Prof. Zernikow oftmals viel schwächer. Neben der Ablenkung in Form von Konzentrations-, Kunst- oder Musikübungen spielt auch Entspannung eine wichtige Rolle. Unsere Patienten machen oft die Erfahrung, dass sich ihre Schmerzen in Stresssituationen verschlimmern. Daher ist es wichtig zu wissen, wie man sich bei Stress am besten verhält, so Prof. Zernikow.

Auch der richtige Einsatz von Schmerzmitteln müsse erlernt werden. Wir setzen Schmerzmedikamente da ein, wo sie tatsächlich wirken, etwa bei starken Migräneattacken. In vielen anderen Situationen helfen Medikamente aber einfach nicht. Stattdessen sind andere Maßnahmen wirksamer, um den Schmerz in den Griff zu bekommen. Oftmals seien die Kinder nach der Therapie sogar völlig schmerzfrei, alle anderen könnten ihren Alltag dank der erlernten Techniken sehr gut bewältigen.

Ängste abbauen

Prof. Zernikow weiß aber auch, dass viele seiner Patienten nicht nur unter dem chronischen Schmerz alleine leiden: Bis zu 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben auch Depressionen oder Angststörungen, am häufigsten diejenigen mit Bauchschmerzen. Diese Art von Schmerz geht sehr oft mit emotionalen Problemen einher. Daher müsse man bei den betroffenen Kindern den Ursachen für Ängste auf den Grund gehen, um den körperlichen Schmerz behandeln zu können.

Und noch einen Grund für die unerlässliche Behandlung von unter Schmerz leidenden Kindern nennt der Klinikleiter: Betroffene, die als Kinder nicht vernünftig behandelt wurden, haben ein erheblich höheres Risiko, im Erwachsenenalter ebenfalls unter chronischen Schmerzen zu leiden.

Familie mit einbeziehen

Zur optimalen Behandlung des Kindes gehört auch, dass seine Familie mit einbezogen wird und ebenfalls lernt, wie sie mit dem kranken Kind und dessen Schmerz umgeht. Wir waren während Tims Therapiezeit ein Mal pro Woche in der Klinik, haben mit den Ärzten und Therapeuten gesprochen und hilfreiche Tipps bekommen, so Nina M. Die ganze Familie musste sich erst mal daran gewöhnen, dass es Tim nicht hilft, ihn immer nach seinem Fuß zu fragen, da er sonst wieder an den Schmerz denkt. Tim habe dann den Trick mit der Ein-Euro-Regel eingeführt: Jedes Mal, wenn ihn ein Familienmitglied, ein Freund oder Lehrer nach seinem Fuß gefragt habe, bekam er von diesem zur Strafe einen Euro.

Tims Fuß geht es inzwischen aber wieder gut, nur noch starke Belastungen, etwa beim Joggen sind manchmal schmerzhaft. Wenn der Schmerz noch mal kommt, habe ich aber einige Methoden, mit denen ich es schnell schaffe, dass er wieder verschwindet, so der 13-Jährige. Somit sollte es auch bald wieder möglich sein, Leichtathletik zu betreiben oder Tennis zu spielen – alles sportliche Aktivitäten, auf die Tim über sieben Monate verzichten musste.

Chronische Schmerzen beeinträchtigen nicht nur das Lebensgefühl des Kindes, das ganze Umfeld hat mit dem Schmerz zu tun; die Familie, die Schule und die Partnerschaft der Eltern leiden unter dem immer wiederkehrenden Schmerz. Helfen kann deshalb nur, wer alle Beteiligten mit einbezieht. Dafür gibt dieses Buch auf leicht verständliche Weise viele Tipps, Hilfen und Anregungen. Die Autoren sprechen dabei sowohl die Eltern als auch die Kinder und Jugendlichen selber an und zeigen: Jeder kann etwas tun und ist dem chronischen Schmerz nicht hilflos ausgeliefert.