chronisch krank: Neue Wege gehen

Wer neurologisch oder psychisch dauerhaft erkrankt, steht im Job vor heiklen Fragen: Was kommt auf mich zu? Kann ich meinen Arbeitsplatz behalten? Muss ich es meinem Chef sagen? – Ob mit Multipler Sklerose, Parkinson, Epilepsie oder psychischen Erkrankungen: Ein Weiter-wie-bisher am Arbeitsplatz ist für die wenigsten möglich, neue Lösungen sind gefragt. NTC Impulse liefert Informationen, Tipps und Beispiele für die Neuorientierung und Karriereplanung.

Eine neue Balance finden!

Sabine Mühlhaus-Liebich, 41 Jahre, Disability-Managerin

Versuchen Sie mal, mit Boxhandschuhen ein Salatblatt zu essen. – Jetzt wissen Sie, wie sich meine Krankheit manchmal anfühlt.

Ich habe eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass ich mein Leben umkrempeln muss, wenn ich auch mit der Krankheit meine beruflichen Ziele erreichen will – und daran habe ich nie gezweifelt. Seit zehn Jahren lebe und arbeite ich als selbstständige Unternehmensberaterin mit Multipler Sklerose. Manchmal fragen mich Unternehmer: Sie sind doch krank, wie schaffen Sie das? Dann kommen wir ins Gespräch und ich erzähle, wie ich die Balance zwischen Arbeit, Leben und Krankheit tagtäglich hinbekomme. Oft öffnet das die Türen für die Zusammenarbeit.

Chancen aufzeigen

Jeden Morgen entscheide ich neu, wozu meine Kraft reichen wird. Mögliche Ausfälle plane ich bei meinen Terminen und Projekten mit ein: Was heute nicht geht, das geht dann eben morgen! Mit einem sehr guten Netzwerk und großer Offenheit lässt sich meine Selbstständigkeit gut managen. Was mich ärgert: Das häufige Vorurteil, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderung nicht leistungsfähig sein können. Als Disability-Managerin und Personal Coach zeige ich Chancen und Möglichkeiten für beide Seiten auf – für das Unternehmen und für den betroffenen Mitarbeiter.

Mein Tipp

Lassen Sie sich von Anfang an unterstützen! Wenden Sie sich zum Beispiel an den Beauftragten für das Betriebliche Eingliederungsmanagement oder an den Integrationsfachdienst. Das entlastet Sie und ermöglicht es Ihnen, die für Sie richtigen Entscheidungen zu treffen.

Kämpfen für die Karriere lohnt sich!

Gabi – , 39 Jahre, Sonderpädagogin

Meinen ersten Schub hatte ich im Staatsexamen. Vorübergehende Sprachprobleme waren die Folge. Aber erst als ich meine Stelle als Lehrerin angetreten hatte, kam die sichere Diagnose: Multiple Sklerose. Ich arbeite Vollzeit, bin mit totalem Herzblut Pädagogin für geistig behinderte Kinder, habe wegen der MS bisher keinen Tag gefehlt. Was man gerne tut, belastet nicht. Nur: Beamtin werden durfte ich bisher nicht. Die wird nicht bis zur Rente arbeiten können, meinte die Schulbehörde.

Kolleginnen machten Mut

Eigentlich wollte ich nicht weiter kämpfen, mir nicht noch mehr Stress machen und womöglich einen nächsten Schub riskieren. Doch meine Kolleginnen drängten mich förmlich dazu, für meine Karriere einzustehen. Also unternahm ich noch einmal einen Versuch auf nachträgliche Verbeamtung mithilfe eines Rechtsanwalts. Die Gleichstellung mit Behinderten wurde genehmigt und damit ist der Weg für eine Verbeamtung frei. Jetzt warte ich gelassen ab, wie sich die Schulbehörde entscheidet.

Selbstverteidigung gelernt

Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich um mein Recht und meine Karriere gekämpft habe. Denn ich habe erlebt, dass ich mich gut verteidigen kann. Sicher, mehr Geld und eine Weiterbezahlung im Krankheitsfall spielen auch eine Rolle. Doch ich leiste auch das Gleiche mit MS wie andere Lehrer auch!

Mein Tipp

Geben Sie Ihre Ziele nicht gleich auf. Sie werden viel erreichen können, manchmal auf Umwegen. Haben Sie keine Bedenken, dass Sie andere vor den Kopf stoßen könnten.

Gleichstellung was bringt es?

Ich muss meinem Chef doch nicht auf die Nase binden, dass ich krank bin.« – Ganz unberechtigt ist es nicht, wenn Mitarbeiter ihre Krankheit lieber verschweigen. Sie befürchten einen Karriereknick oder den Jobverlust. So weit muss es aber nicht kommen. Denn eine lang andauernde – auch psychische – Krankheit ist rechtlich wie eine Behinderung zu sehen, deshalb gilt auch für chronisch Kranke ein besonderer Kündigungsschutz. Selbst mehr Fehltage rechtfertigen dann nicht eine krankheitsbedingte Kündigung. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass eine Gleichstellung mit Schwerbehinderten von der Bundesagentur für Arbeit genehmigt wird. Das ist möglich ab einem Grad der Behinderung von 30 und wenn der Arbeitsplatz ohne die Gleichstellung gefährdet wäre. Hierzu wird der Arbeitgeber befragt – ohne sein Wissen ist dieser Sonderstatus also nicht zu erreichen. Dabei kann kann die Gleichstellung ein guter Anlass sein, um das Gespräch darüber zu eröffnen, was man künftig braucht, um gute Leistung zu bringen – trotz Krankheit. Der Vorteil für den Arbeitgeber: Er kann Förderleistungen und Lohnzuschüsse für gleichgestellte Mitarbeiter erhalten und spart gleichzeitig bei der Ausgleichsabgabe ein.

Die Krankheit gehört zu Ihrem Leben!

Josef Wierig, 57 Jahre, Elektrotechniker im Vertrieb

Ich bin von vornherein ganz offen mit der Multiplen Sklerose umgegangen. In meinem Fall haben sich sowohl die Vorgesetzten als auch die Kolleginnen und Kollegen offen und fair gezeigt. Ihr Interesse an meiner Erkrankung und wie es damit weitergeht, halfen mir über die ersten traurigen Momente der eigenen Erkenntnis hinweg. Eine starke kollegiale Gemeinschaft kann auch eine gute seelische Stütze sein!

Offenheit lohnt sich

Da es in jedem Arbeitsverhältnis unterschiedliche Rahmenbedingungen gibt, sollten Sie vorher überlegen, welchen Weg der Kommunikation Sie gehen wollen. Den Mut, die eigene Erkrankung offen zu thematisieren, zahlt sich meines Erachtens in jedem Fall aus. Da MS eine anerkannte chronische Krankheit ist, sollte zumindest der direkte Vorgesetzte informiert sein. Dies vermeidet in jedem Fall zukünftige Erklärungsnotstände.

Mein Tipp

Gehen Sie offen mit Ihrer Krankheit um. Schildern Sie Ihre eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen. Sie werden erleichtert sein, dass Sie Ihre MS-Erkrankung nicht als Geheimnis mit sich herumtragen müssen.

Zurück an den Arbeitsplatz wie klappt das?

Es kann manchmal Monate dauern, etwa nach einem Schlaganfall oder einer schweren Depression, bis Betroffene nach Therapie und Reha wieder belastungsfähig sind. Dann dürfen sie erwarten, dass ihnen der Arbeitgeber den Weg zurück in den Job ebnet. Denn selbst kleine Unternehmen sind zur betrieblichen Wiedereingliederung verpflichtet. Sie zielt darauf ab, eine angemessene Tätigkeit für einen chronisch kranken oder behinderten Mitarbeiter zu finden und eine krankheitsbedingte Kündigung zu vermeiden. Selbstverständlich muss der Mitarbeiter damit einverstanden sein. Mehr noch: Für eine maßgeschneiderte Rückkehr in den Job lohnt es sich, wenn er ausdrücklich nach dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement fragt. Während der Wiedereingliederung zahlt die Krankenkasse oder Rentenversicherung, nicht die Firma! Der Mitarbeiter erhält solange eine AU-Bescheinigung.

Wenn es keine betriebliche Lösung gibt

Manchmal ist es nicht mehr möglich, den alten Arbeitsplatz zu behalten. In Handwerksbetrieben fehlen oft die Mittel, um Mitarbeiter mit chronischer Erkrankung weiter zu beschäftigen. Oder es fehlen schlicht die Alternativen: Dachdecker oder ambulante Pflegedienste können sich zum Beispiel keine Fachkräfte mit Epilepsie leisten – das Unfallrisiko für alle wäre unverantwortlich. Kündigungen sind also möglich. Sogar dann, wenn ein Mitarbeiter noch krankgeschrieben ist.

Lange oder häufige Fehlzeiten können dem Chef berechtigte Gründe liefern, den Arbeitsvertrag zu lösen. Klagt der Mitarbeiter dagegen, wird genau geprüft, ob sich die Firma tatsächlich keine Ersatzkraft leisten kann. Läuft bereits die Wiedereingliederung, kann sich ein Mitarbeiter seines Arbeitsplatzes solange sicher sein. Vorsicht: Ein besonderer Kündigungsschutz besteht nicht während der Probezeit und nur begrenzt in Betrieben mit höchstens zehn Mitarbeitern.

Die ständige Angst vor der Kündigung belastet chronisch kranke Menschen im Job zusätzlich, verschlimmert womöglich die Symptome. Besser ist es, sich frühzeitig Rat zu holen und zu prüfen, ob nicht eine Gleichstellung mit Behinderten die eigene Situation entspannt. Auch neue Wege sind eine Überlegung wert: Manchen hilft es mehr, sich vom alten Arbeitsplatz zu verabschieden und zum Beispiel auf 400-Euro-Basis plus Erwerbsminderungsrente weiterhin berufstätig zu bleiben.

Selbst entscheiden, was möglich ist!

Doris Friedrich, 54 Jahre, Buchautorin

Die Diagnose MS kam, als ich 27 war. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Boden unter den Füßen wegbrechen. Dabei wollte ich unbedingt Parlamentssekretärin werden, doch mit einmal rückte dieses Karriereziel in unerreichbare Ferne. Die Schübe in den darauffolgenden Jahren wirkten sich auf mein Sehvermögen aus, lösten Taubheit in den Beinen aus. Ein Hörsturz folgte, ausgelöst durch Stress.

Karriereziel erreicht

Als berufstätige Sekretärin erlebte ich viele Höhen und Tiefen, bin immer wieder an Grenzen gestoßen – was meine Belastbarkeit anging, wie auch mangelnde Akzeptanz im Job. Ich hatte verschiedene Arbeitsstellen und dabei auch die Erfahrung gemacht, dass man als Mitarbeiterin mit eingeschränktem Leistungsvermögen nicht immer volle Unterstützung erwarten kann. Seit 14 Jahren bin ich nun Rentnerin und habe inzwischen mein ganz persönliches Karriereziel erreicht: Bücher schreiben – über Multiple Sklerose, um andere Betroffene und Angehörige zu ermutigen, ein möglichst normales, aktives Leben mit MS zu führen.

Mein Tipp

Gehen Sie Ihren eigenen Weg und entscheiden Sie für sich selbst, was möglich ist – und was nicht.

Ich lebe jetzt!

Timo Lehmann, 37 Jahre, Dreher in Rente

Meine Hand fing zu zittern an, da war ich 32 und Maschinenprogrammierer in Schichtarbeit in einem kleinen Betrieb. Erst habe ich versucht, das Zittern zu vertuschen. Als der Neurologe dann die Diagnose Parkinson stellte, musste ich es natürlich auch dem Betriebsleiter sagen. Mit der Zeit wurde ich immer steifer und schlaffer, konnte wegen Gliederschmerzen häufig nicht zur Arbeit kommen. Zweieinhalb Jahre ging das so, bis mein Chef sagte: Das hat kein Wert mehr, wir müssen dich entlassen. Ich konnte ihn sogar verstehen. Doch der Schock war groß, denn ich habe meinen Beruf geliebt. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich mich dauerhaft krankschreiben lasse. Dann hat die Krankenkasse vorgeschlagen, die Rente zu beantragen. Ich war nicht mehr arbeitsfähig, Reha und Medikamente haben daran nichts geändert.

Den Alltag aktiv gestalten

Es geht mir besser, seitdem ich zuhause bleibe. Die Phasen, in denen ich mich gar nicht mehr bewegen kann, habe ich nur noch zwei Mal im Monat. Heute arbeite ich mit Holz in meiner Hobbywerkstatt. Das ist der Raum, in dem ich mich frei fühlen kann. Meine Lebenserwartung, sagt der Arzt, sei mit den Medikamenten um 20 bis 30 Jahre gestiegen. Was dann sein wird, weiß keiner. Deshalb lebe ich mein Leben jetzt und mache es mir so schön wie möglich!

Mein Tipp

Parkinson zu vertuschen, bringt nur noch mehr Probleme. Kämpfen Sie nicht gegen die Krankheit an, nutzen Sie Ihre Kraft zum Leben.

Früher in Rente?

Eine dauerhafte Krankschreibung wie bei Timo Lehmann kann zu einer quälenden Hängepartie für schwer chronisch Erkrankte werden. Was kommt bloß als Nächstes? Wahrscheinlich die Krankengeld zahlende Kasse mit der Empfehlung, in Rente zu gehen.

Wer die volle Erwerbsminderungsrente erhalten will, muss einige Voraussetzungen erfüllen. Erstens: prüfen lassen, ob die Krankheit oder Behinderung auf unabsehbare Zeit erwerbsunfähig macht. Zweitens: nachweisen, dass nicht mindestens drei Stunden täglich eine bezahlte Tätigkeit möglich ist – zum Beispiel als Museumswärter. Drittens: Mindestens in drei der fünf letzten Jahre wurden Pflichtbeiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt. Die Höhe der monatlichen Rente bemisst sich an der Höhe der jeweiligen Altersrente. Bei Menschen unterhalb des regulären Rentenalters wird zwar bei der Bemessung die Zeit bis zur Altersrente dazugerechnet, doch gibt es Abschläge von 10,8 %. Das gleiche gilt auch für Selbstständige, sofern sie freiwillig in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben. Alternative: eine private Versicherung gegen Berufsunfähigkeit.