Multiple Sklerose: Das Ziel vor Augen

Sport ist für Menschen mit MS besonders wertvoll, bestätigen neuere Studien. Wie viel Bewegung ist sinnvoll? Wann ist die eigene Leistungsgrenze erreicht? NTC Impulse stellt zwei Männer vor, die genau das für sich herausfinden werden.

Stärkere Muskeln, gesundes Herz, natürliche Gewichtsregulation: Das alles bewirkt regelmäßige Bewegung. Und noch viel mehr: Sport wirkt auch positiv auf Geist, Seele, auf Immunsystem und Nervenzellen – und steigert deutlich die Lebensqualität. Gerade jüngere Frauen und Männer mit MS wollen mehr als therapeutische Bewegung. Ambitionierter Sport gehörte bisher zu ihrem Leben – und das braucht sich durch die Diagnose nicht zu ändern.

Auf dem Weg zum Ironman

Florian Plehn liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Leistungssport und Multiple Sklerose miteiander vereinbar sein können. Der 42-Jährige aus Hamburg schafft es, selbst etliche Jahre nach der Diagnose seine Ziele immer höher zu stecken – und zu erreichen. Marathon laufen? Erledigt. Im Triathlon starten? Schon ein halbes Dutzend Mal. Florian will mehr. Nächsten Sommer startet er bei einem Ironman. Das sind knapp 4 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und anschließend 42 Kilometer Laufen. Alles hintereinander weg. Ich habe 15 Stunden Zeit dafür. Das schaffe ich schneller, sagt er. Die Weltbesten brauchen dafür etwa acht Stunden. Mein Leben lang schon treibe ich viel Sport und orientiere mich dabei immer nach oben, erklärt Florian. Die harte Beinarbeit mag Routine sein, entscheidend ist seine mentale Stärke Sie erlaubt es ihm, sich auf der Gewinnerseite im Leben zu sehen. Das strahlt der Mann lächelnd auch im Ruhezustand aus: Ich fühle mich gesund und habe eine chronische Erkrankung.

Dabei war es ausgerechnet im Leistungssport, als der erste Schub kam – direkt nach seinem ersten Marathon vor 20 Jahren. Eine Kortisonbehandlung half, auch nach den nächsten drei Schüben in den darauffolgenden Jahren. Nur der linke Augennerv erholte sich nicht, 40 Prozent Sehkraft auf einer Seite reiche für die Orientierung im Raum aber aus, meint Florian. Herunterspielen ließ sich die MS irgendwann nicht mehr: Ich schwankte beim Gehen, die Leute dachten, ich sei schon morgens betrunken. Florian entschied sich für eine Therapie mit Interferonen. Seit acht Jahren lebt er schubfrei und ohne Bewegungsstörungen. Das wöchentliche Spritzen baut er in sein Trainingsprogramm ein: Sonntag ist Ruhetag. Mit dem Medikament traue ich mir mehr zu als vorher. Ich glaube aber, dass es klug ist, dem Körper nicht zu viel zuzumuten, überlegt Florian.

Nur: Was ist zu viel? Wichtig für mich ist, dass ich mich nach dem Training oder auch nach einem Wettkampf wohlfühle. Die Ironman-Distanz ist allerdings eine Überforderung, für jeden übrigens. Viele Extrem-Ausdauersportler kämpfen während des Wettlaufs gegen Magenkrämpfe an. Das Risiko, dass auf ein Zuviel an Belastung ein Schub folgt, ist da.

Florian bewegt sich schon lange auf hohem Leistungsniveau. Wer sich zutraut, aus dem Stand heraus einen Marathon zu laufen, darf wohl auch über den härtesten Triathlon nachdenken. Zügig voran, aber ohne Stress ist sein Motto. Sein Neurologe Dr. Lukas Schmitt unterstützt ihn: Stress, nicht physische Anstrengung, könnte einen Schub auslösen und Vernarbungen im Hirn hinterlassen, die dann zu Bewegungseinschränkungen führen. Doch hilft der intensive Sport meinem Patienten sehr, die MS für sich zu bewältigen. Aus medizinischer Sicht gilt es, immer im Einzelfall abzuwägen, was und wie viel an Sport gut tut.

Anders als sein Arzt stellt sich Florian diese Frage aber nicht. Vielleicht ist sein Erfolgsrezept sein eiserner Wille – oder schlicht Sturheit? –, das den studierten Psychologen so weit gebracht hat. Ein Kampf gegen die MS ist der Leistungssport für ihn nicht: Ich bin von der Heilkraft des Sports überzeugt. Er schützt vor Depressionen. Wenn man daran glaubt, dass es gut tut, dann hilft, sich zu bewegen mehr, als sich zu schonen – ob beim Jazztanz oder im Triathlon. Der Extremsportler ist sich bewusst, dass ein weiterer Schub auch bedeuten könnte, an Krücken zu landen. Aber dann hätte ich wenigstens alles gemacht, was ich mir vorgenommen hatte. Das kann mir dann auch die MS nicht mehr nehmen.

Trainingstipps für Einsteiger

  • Sporttagebuch anlegen: erreichtes Pensum, Wohlbefinden und Erfolge notieren
  • 3×30 Minuten Ausdauertraining pro Woche
  • Pausen zum Erholen und Abkühlen einplanen
  • Im aeroben Bereich trainieren, ohne Atemnot!
  • Leistung langsam steigern: 10 Prozent pro Woche
  • Bei Funktionsstörungen oder anhaltender Erschöpfung mit dem behandelnden Neurologen sprechen

NTC-Neurologe: Sport stärkt die Nerven

Herr Dr. Lang, warum ist Bewegung so wichtig?

Was für Gesunde zutrifft, gilt erst recht für Menschen mit MS: Regelmäßige Bewegung tut gut! Typische MS-Symptome wie Fatigue, Depression, aber auch Spastik und Gehstörungen können durch Sport verringert werden. Außerdem verbessern sich Gedächtnisleistung und Konzentration. Schließlich kommen unsere sportlich aktiven Patienten meistens besser mit ihrer Erkrankung zurecht und schätzen ihre Lebensqualität höher ein als solche, die sich nicht bewegen.

Warum hilft Bewegung besonders bei MS?

Körper, Seele und Immunsystem beeinflussen sich gegenseitig. So können Stress und körperliche Schwäche krank machen und sich negativ auf das Immunsystem auswirken. Regelmäßige körperliche Aktivität dagegen stärkt das Immunsystem. Zudem ist wissenschaftlich belegt, dass Sport die Bildung neuroaktiver Proteine fördert: Weniger Entzündungen entstehen, Nervenzellen erhalten einen natürlichen Schutz. Sport stärkt die Nerven – in jeder Hinsicht.

Kann Sport auch schaden?

Dafür kennen wir bisher kein Beispiel. Vielmehr zeigen Studien, dass sportliche Aktivität einem Fortschreiten der Multiplen Sklerose entgegenwirken kann – sofern die Medikamenten-Therapie lückenlos bleibt. Es kommt auch darauf an, ob und welche Körperfunktionen beeinträchtigt sind. Grundsätzlich empfehle ich, Sportarten zu meiden, bei denen keine Erholungspausen eingelegt werden können. Längere Bergtouren zählen dazu wie auch das Schwimmen im offenen Meer. Sie dürfen sich fordern, aber bitte nicht überfordern!

Welche Trainingsziele empfehlen Sie?

Das kommt ganz auf die körperlichen Fähigkeiten des Patienten an. Regelmäßigkeit ist wichtiger als Top-Leistung. Drei Mal pro Woche eine halbe Stunde die Ausdauer trainieren, kombiniert mit jeweils zehn Minuten Krafttraining – das wäre schon ideal. Es dürfen anfangs auch Spaziergänge, Schwimmen und Gymnastikübungen sein. Sie können ruhig versuchen, das Pensum jede Woche um zehn Prozent zu steigern. Achten Sie darauf, dass Ihr Körper im aeroben Bereich bleibt, mit mindestens so viel Sauerstoff versorgt ist, wie er unter Anstrengung verbraucht. Entscheidend ist, dass Sie sich nach dem Training wohlfühlen – und auch in weniger guten Phasen dranbleiben.

Dr. med. Michael Lang
Facharzt für Neurologie, Ulm
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