Schlaganfall: Worte ohne Sinn

Neben Lähmungen kommt es bei vielen Schlaganfall-Patienten zu einem Verlust der Sprache. Aber auch die Fähigkeit zu lesen kann durch Verletzungen im Gehirn gestört sein. Mithilfe einer gezielten Therapie kann diese sogenannte Alexie oft erfolgreich behandelt werden.

So sehr man sich auch bemüht, die Wörter ergeben plötzlich überhaupt keinen Sinn mehr – die Buchstaben sind völlig unsinnig aneinandergereiht und ähneln vielmehr Hieroglyphen als bekannten Symbolen. Dabei konnte man doch lesen, hat es früh in der Schule gelernt und auch nie Probleme gehabt. Aber nun steht fest: Es klappt nicht mehr. Eine Alexie, auch Dyslexie, genannt – der Verlust der Lesefähigkeit – kann durch einen Schlaganfall verursacht werden. Entweder ist sie ein plötzlich auftretendes Symptom, das auf einen Schlaganfall hinweist, dann sollte der Betroffene schnellstmöglich in eine Klinik. Oder der Patient hat einen Schlaganfall erlitten und wurde behandelt, leidet aber als Folge der Erkran-kung noch unter der Lesestörung.

Wichtige Strategien

Dabei wird die Alexie durch Läsionen im Gehirn verursacht, zu denen es durch den Schlaganfall, aber möglicherweise auch durch eine andere neurodegenerative Erkrankung oder einen Unfall gekommen ist. Die entsprechenden Hirnschädigungen liegen häufig im sogenannten Gyrus angularis und Gyrus supramarginalis – dem Lese-Schreib-Zentrum in der linken Gehirnhälfte (bei Rechtshändern), können aber auch in anderen Regionen vorkommen. Während früher je nach Läsionsort die verschiedenen Alexie-Syndrome abgeleitet wurden, weiß man heute, dass die möglichen Schwierigkeiten beim Lesen davon abhängen, nach welcher Strategie ein Mensch liest und inwieweit diese Strategie beziehungsweise welcher Teil der sogenannten Leserouten gestört ist.

Bei den Lesestrategien wird unterschieden, ob die Wörter generell ganzheitlich (holistisch) oder Buchstabe für Buchstabe (sequenziell) gelesen werden. Die ganzheitliche Methode kommt eher bei Wörtern zum Tragen, die dem Leser vertraut sind. Die Anzahl der auf diese Weise gelesenen Wörter nimmt mit der Übung zu, das heißt, zu Beginn des Lese- und Schreiberwerbs ist sie noch relativ gering und steigt dann stetig an. Für die (orthografisch) eher schwierigen Wörter liegt häufig ein eher holistisches Wissen vor. So werden unbekannte und lange Wörter typischerweise letter-by-letter beziehungsweise Silbe für Silbe gelesen.

Verschiedene Leserouten

Ergänzend zu den Strategien erklären die Leserouten noch genauer, wie das Lesen funktioniert (siehe Abbildung). Bei der ersten Route wird ohne jegliches Verständnis für das entsprechende Wort gelesen, es wird lediglich als Aneinanderreihung der bekannten Buchstaben über außen verstanden. Dagegen kommt einem bei der zweiten Leseroute das Wort bekannt vor, man erkennt es also als Teil der vertrauten Sprache wieder. Dabei greift man auf das eigene Lexikon bekannter Wortarten zurück. Man erkennt beispielsweise Stuhl im Vergleich zu dem nicht vertrauten englischen Begriff chair. Was fehlt, ist die Verknüpfung mit der genauen Bedeutung des Wortes. Diese Bedeutung, also hier die Funktion des Stuhles als Sitzmöbel, spielt erst bei der dritten Leseroute eine Rolle. Eine gesunde Person kann beim Lesen alle drei Routen gleichzeitig benutzen. Herauszufinden, welche Leseroute bei dem betroffenen Patienten wie gestört ist, ist ein elementarer Bestandteil bei der Diagnose einer Alexie. Denn nur wenn die genaue Störung bekannt ist, kann eine entsprechende spezifische Therapie erfolgreich sein.

Wie Sprache funktioniert

Zum besseren Verständnis des jeweiligen individuellen Problems sowie als Diagnoseinstrument stehen dem Therapeuten das Logogenmodell beziehungsweise das Diagnosemanual LeMo zur Verfügung. Diese erklären, wie Sprache genau funktioniert – aufgeteilt nach bestimmten Boxen, die beim Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben aktiviert werden müssen. Je nachdem, welcher dieser Aspekte betroffen ist, kann es zu zahlreichen verschiedenen Arten der Lesestörung kommen.

So gibt es beispielweise Patienten, deren Lesebild komplett verschoben ist, die also immer in der Mitte des Wortes anfangen zu lesen und den Wortanfang weglassen. Statt Kleiderschrank lesen sie nur Schrank (Neglect-Alexie). Andere Patienten können selbst einzelne Buchstaben nicht mehr identifizieren und somit ist das laute Vorlesen nicht mehr möglich und das Lesesinnverständnis deutlich beeinträchtigt (reine Alexie). Oder es wird Buchstabe-für-Buchstabe gelesen, da nur einzelne Buchstaben gescannt werden können; hierbei wird das zu lesende Wort häufig erraten (letter-by-letter-reading). Bei der Tiefendyslexie werden die Zielwörter durch bedeutungsmäßig (semantisch) ähnliche ersetzt: Tisch für Stuhl und beim Lesen über die Oberfläche werden Wörter zwar als Lexikoneintrag erkannt, aber es kommt zu sogenannten Regularisierungsfehlern: Jeep = jep.Zudem tritt eine Alexie nur selten als Einzelphänomen auf. Alexien gehen sehr häufig mit Agraphien – Schreibstörungen – einher, meistens auch im Rahmen einer durch den Schlagan-fall verursachten übergeordneten Sprachstörung, Aphasie genannt.Treten beim Patienten aufgrund der Hirnschädigungen Störungen im Umgang mit Zahlen auf, das heißt, er hat plötzlich Probleme im Bereich der Zahlenverarbeitung oder beim Rechnen, liegt eine Akalkulie vor. All diese verschiedenen Störungen können behandelt werden.

Wieder Lesen lernen

Die Art der Therapie erfolgt ganz individuell anhand der Fehleranalyse. Je nach diagnostiziertem Problem, wird entweder auf die noch intakte Leseroute umgestellt oder die teilweise gestörte Route wird reaktiviert. Die entsprechenden Therapiemaßnahmen können dem Betroffenen ebenfalls anhand des Logogenmodells erklärt werden. Der Vorteil: Der Patient lernt zu verstehen, was genau seine Lesestörung ist und was dagegen getan werden kann.

Dr. Grit Mallien
Dipl.-Patholinguistin, Berlin