ADHS: Ping-Pong im Kopf

Was bei Kindern inzwischen als Krankheitsbild akzeptiert wird, ist bei Erwachsenen kaum bekannt: die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS. Aber auch erwachsene Patienten leiden unter Symptomen, die den Alltag erheblich einschränken können.

Eigentlich sei sie schon immer sehr verträumt und unaufmerksam gewesen, erinnert sich Anna Klonowski. Als ich in der Grundschule war, hat das aber niemanden gestört, so die 26-Jährige. Meine Lehrerin wusste intuitiv wohl immer, wie sie mich wieder ‚weckt’ und in den Unterricht zurückholt. Erst im Gymnasium seien die Konzentrationsschwierigkeiten schlimmer geworden. Vor allem Fächer, in denen sie viel auswendig lernen musste, zum Beispiel Chemie, fielen ihr schwer. Diese Fächer habe ich dann einfach so schnell wie möglich abgewählt und bin mit Sprachen und Mathe gut durchs Abitur gekommen.

Gedächtnis unter Druck

Und nach der Schule? Annas großer Traum: Medizin studieren und Ärztin werden. Doch je weiter das Studium voranschreitet, desto öfter stößt Anna an ihre Grenzen. Spätestens nach fünf Minuten kreisten meine Gedanken schon um etwas anderes. Das Lernen wurde für mich immer anstrengender.

Und es wird noch schlimmer: Annas Konzentrationsschwierigkeiten nehmen zu, je mehr sie sich zwingen will, desto verwirrender werden ihre Gedanken und springen wie Ping-Pong-Bälle im Kopf umher. Im Supermarkt weiß sie nicht mehr, was sie einkaufen wollte, sie nimmt immer mehr ab, die sonst sehr ordentliche Wohnung versinkt im Chaos. Der Wendepunkt kommt, als sich Anna dabei ertappt, dass sie beim Fahrradfahren nicht mehr weiß, wo sie ist und ob sie rote oder grüne Ampeln überfahren hat. Das ist zwei Jahre her. Als ich merkte, wie gefährlich das alles sein kann, wusste ich, dass sich etwas ändern muss. Ich habe recherchiert, was mit mir los sein könnte und bin auf ADHS gestoßen.

Langwierige Diagnose

Viele Probleme, unter denen Erwachsene leiden können, treffen bei Anna zu: Aufmerksamkeitsstörungen, Verträumtheit, Chaos, Desorganisation, Probleme am Arbeitsplatz, schnelle Erschöpfung und Lustlosigkeit. Also möchte sie Hilfe in Anspruch nehmen, doch ein erster Arztbesuch hilft ihr nicht weiter. Man sagte mir nur, dass für ADHS mein Abitur zu gut sei. Und als ich vor lauter Enttäuschung über diese Aussage in Tränen ausbrach, wollte man mir Antidepressiva verschreiben. Frustriert geht Anna wieder nach Hause, zurück in ihr Chaos. Ich denke, viele Betroffene haben Angst, dass man sie abstempelt und denkt, sie würden die Krankheit nur als Ausrede benutzen, wenn sie sich Studium oder Beruf nicht gewachsen fühlen oder faul sind.

Hilfe findet Anna dann bei ihrem ehemaligen Kinderarzt, den sie zufällig auf der Straße trifft. Ihm fällt auf, wie schlecht sie aussieht, er hört sich ihre Beschwerden an und schickt sie zu einem ADHS-Experten. Danach geht es aufwärts: Nachdem die Diagnose fest stand und ich medikamentös eingestellt wurde, verbesserte sich mein Leben schlagartig. Ich war nicht mehr so fahrig, konnte mich deutlich länger konzentrieren und wieder Struktur in meinen Alltag bringen.

Professionelle Hilfe

Für Erwachsene, die unter ADHS leiden, gibt es inzwischen an vielen Kliniken spezielle Sprechstunden, in denen sich Betroffene zu Diagnose, Therapie und Alltagsbewältigung beraten lassen können. Deutschlandweit sind schätzungsweise zweieinhalb Millionen Erwachsene von ADHS betroffen. Während viele von ihnen erst als Erwachsene diagnostiziert werden, nehmen auch etwa 50 Prozent der von ADHS betroffenen Kinder ihre Erkrankung mit ins Erwachsenenalter, weiß Dr. Christian Mette, Psychologe in der Spezialsprechstunde ADHS im Erwachsenenalter am LVR-Klinikum Essen. Bestenfalls sorgen diese Patienten zusammen mit ihren Familien vor und erkundigen sich frühzeitig über einen reibungslosen Wechsel vom Kinder- zum Erwachsenenarzt, damit eine effektive Therapie weiterhin möglich ist.

Dabei sollte beachtet werden, dass sich die bei Kindern bekannten Leitsymptome Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit bei erwachsenen ADHS-Patienten verändern beziehungsweise weitere Beschwerden hinzukommen können – in einigen Fällen auch Suchterkrankungen wie Alkohol- oder Spielsucht. Wichtig ist, die Erkrankung von anderen psychischen Krankheitsbildern wie Depressionen, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen abzugrenzen, die ähnliche Symptome aufweisen können. Das macht die Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter manchmal sehr schwierig, vor allem wenn eine ADHS nicht bereits in der Kindheit diagnostiziert wurde, so Dr. Mette.

Strategien zur Alltagsbewältigung

Viele Erwachsene haben auch Angst, sich mit ihren Problemen jemandem anzuvertrauen – zu groß ist meist die Sorge, von der Umwelt nicht ernst genommen und verurteilt zu werden. Während ADHS sowie mögliche Therapien bei Kindern bekannt sind, sieht es bei Erwachsenen leider nach wie vor anders aus, weiß Dr. Mette aus der Praxis. Dabei kann auch ihnen geholfen werden, Symptome und Alltag in den Griff zu bekommen und die Lebensqualität zu verbessern. Gute Erfolge zeigt diesbezüglich eine multimodale Therapie – bestehend aus Medikamenten und einer Psychotherapie.

So erlernen die Betroffenen spezielle Übungen, die ihnen unter anderem helfen, Phasen der Unaufmerksamkeit im Alltag zu überwinden. Das können einfache Tricks, wie ein Erinnerungszettel an der Haustür, oder komplexere Strategien sein, die bestenfalls automatisiert und bei Bedarf abgerufen werden. Mithilfe dieser Verhaltenstherapie können die Patienten meist wieder so viel Ordnung und Ruhe in ihr Leben bringen, dass eine dauerhafte medikamentöse Therapie nicht nötig sein muss, erklärt Dr. Mette.

Nicht unterkriegen lassen

So ergeht es auch Anna. Heute hat sie ihr Leben mit der Krankheit im Griff. Die Anfangsdosis der Medikamente wurde nach und nach reduziert, nächstes Jahr will sie versuchen, die Tabletten ganz abzusetzen. Für das nach wie vor schwierige Studium hat sie Strategien entwickelt, wie sie am besten lernen kann.

Früher konnte ich mich nur fünf Minuten am Stück konzentrieren, heute bin ich bei 30 bis 40 Minuten. Das ist im zwar immer noch nicht sehr lang, aber ich weiß, damit umzugehen. Also eine halbe Stunde lernen, zehn Minuten Pause, dann wieder eine halbe Stunde lernen. Damit komme ich gut klar. Zudem mache sie viel Sport, um sich auszupowern und die Gedanken zu ordnen – sei es mit Joggen, Volleyball oder im Fitnessstudio.

Und Anna möchte anderen Betroffenen Mut machen: Ich werde oft gefragt, warum ich denn unbedingt Medizin studieren muss. Ja, das ist für einen Menschen mit ADHS ungefähr so schwierig, wie wenn jemand mit nur zehn Prozent Sehkraft Scharfschütze werden möchte. Dennoch ist es nun mal mein Traum, Ärztin zu werden, und davon hält mich auch meine Erkrankung nicht ab. Mithilfe einer passenden Therapie kann man trotz ADHS seinen Alltag meistern und seine Wünsche ausleben. Niemand sollte sich einreden lassen, dass das nicht möglich ist!