Psyche: Geschwisterkinder stärken

Ein schwer chronisch krankes Kind stellt die ganze Familie vor eine große Herausforderung. Da bleibt für Geschwisterkinder oft nicht viel Zeit und Aufmerksamkeit. Damit sie dennoch nicht vernachlässigt werden und lernen, auch auf ihre Bedürfnisse zu achten, können betroffene Familien professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Ein unbeschwertes Familienleben ist für Olivia, 14 Jahre, nicht selbstverständlich. Ihr älterer Bruder hat Epilepsie. Inzwischen ist diese chronische Erkrankung des Nervensystems unter Kontrolle. Das war mal anders: Mit acht Jahren erlitt der Junge ein akutes Leberversagen und brauchte dringend eine Transplantation.

Wechselbad der Gefühle

Ich war gerade in die Schule gekommen, erinnert sich Olivia, deshalb gingen meine Eltern ohne mich mit meinem Bruder für die Operation nach Hannover. Ich musste in Frankfurt bei der Oma bleiben. Eine schwere Zeit begann, in der die Gefühle Achterbahn fuhren: Da war die Traurigkeit, ohne die Eltern auskommen zu müssen, und auch die Sorge um den Bruder – für die damals Sechsjährige eine große seelische Belastung. Olivia litt häufig unter Bauchschmerzen und konnte nicht mehr durchschlafen.

Natürlich habe ich mir vor allem gewünscht, dass mein Bruder schnell wieder gesund wird, aber ich habe mich auch verlassen gefühlt. Um ihrer Tochter zu helfen, erkundigte sich Olivias Mutter nach Hilfsangeboten speziell für Geschwisterkinder. Viel gab es damals noch nicht. Nach langem Suchen fand sich aber eine Gruppe, in der sich Olivia mit anderen betroffenen Kindern treffen, über ihre Erfahrungen austauschen und spielen konnte. Das hat ihr gut getan, erinnert sich ihre Mutter.

Heute muss Olivia zwar immer noch Rücksicht auf ihren Bruder nehmen, dennoch leben sie wie andere Geschwister auch zusammen.

Professionelle Unterstützung

Es gibt Selbsthilfegruppen oder Organisationen, die sich speziell um die Geschwister von schwer oder chronisch erkrankten Kindern kümmern. Dazu zählt neben der bundesweit aktiven Stiftung FamilienBande unter anderem das Geschwisterkinder-Netzwerk (www.geschwisterkindernetzwerk.de, Tel.: 0511 / 8115-5411 oder -8903) in Hannover.

Projektkoordinator Volker Rinne weiß, wie die Geschwister von der Erkrankung eines Bruders oder einer Schwester mitbetroffen sind: Geht es einem Familienmitglied nicht gut, geht es keinem gut, so Rinne. Der Alltag mit einem erkrankten oder behinderten Kind erfordert viel Zeit und Kraft. Bei längeren Klinikaufenthalten muss der Alltag für alle neu organisiert werden. Dazu kommen die Wechselbäder zwischen Hoffnung und Angst. Das ist nicht immer leicht und kann emotional schnell überfordern. Geschwisterkinder leiden oftmals still. Das kann auch daran liegen, dass viele ihr schlechtes Gewissen plagt, wenn sie zwiespältige Gefühle – schwankend zwischen Liebe und Wut – gegenüber dem erkrankten Kind hegen. Schließlich steht dieses immer im Mittelpunkt des Interesses, während sie selbst mit Wünschen und Bedürfnissen häufig zurückstecken müssen. Rinne zufolge könne es neben auffälligem Verhalten, um auch mal die Aufmerksamkeit der Eltern zu bekommen, vor allem zu negativen Gefühlen, zu Überbelastung und Stress kommen – mit seelischen und körperlichen Symptomen.

Umso wichtiger ist es, in die Versorgung und Unterstützung von Familien mit schwerkranken Kindern die gesunden Geschwisterkinder miteinzubeziehen, erklärt Rinne. Dazu benötigten viele Kinder besondere Unterstützung, Zuwendung oder auch gezielte Hilfen, zum Beispiel in Form von geschützten Räumen mit pädagogischen oder – falls notwendig – auch psychotherapeutischen Angeboten und/oder begleiteten, persönlichkeitsfördernden Freizeitaktivitäten, wie Sport oder Musik. Die Geschwisterkinder lernen dabei, mit der belastenden Situation zu Hause umzugehen und gleichzeitig auf eigene Bedürfnisse und Interessen zu achten, damit sie weiterhin gesund bleiben, gestärkt ihren eigenen Lebensweg gehen können und die Familie entlastet wird. Geschwisterkinder sind gesund, sie sollen es aber auch bleiben.

Die Familie hält zusammen

Dass sich ein Geschwisterkind aber nicht immer hilflos und alleine fühlen muss, zeigt sich am Beispiel des heute 14-jährigen Marcel. Als der kleine Elias den ersten Anfall hatte, war er ein halbes Jahr alt, sein

Bruder zwölf. Zuerst dachten die Ärzte, es sei nur ein Fieberkrampf, wie er schon mal vorkommen kann, erinnert sich der Teenager. Doch nach weiteren Anfällen stellte sich heraus, dass sein kleiner Bruder unter einer schweren Variante des Dravet-Syndroms leidet, eine seltene Form der Epilepsie.

Manchmal hat er mehrere Anfälle am Tag – jeder davon kann zu einem Herzstillstand führen, fügt Mutter Heidi Schneider hinzu. Kein Wunder, dass die volle Aufmerksamkeit der ganzen Familie dem Wohlbefinden von Elias gilt.

Großes Ziel: Arzt werden

Doch auch wenn sich im Alltag der Familie alles um den Kleinen dreht, fühlt Marcel sich nicht vernachlässigt. Vielmehr scheint er in die Rolle des Beschützers schnell hineingewachsen zu sein. Elias steht im Vordergrund, dafür habe ich volles Verständnis. Er ist noch klein und braucht Hilfe. Ich aber bin schon älter und kann langsam für mich selbst entscheiden, so der große Bruder. Auch könne er jederzeit mit Sorgen zu seinen Eltern kommen und ein Mal pro Woche setze er sich in Ruhe mit ihnen zusammen. Dann sprechen wir darüber, was wir als Familie machen möchten oder wie es uns geht.

Zudem hat sich Marcel die Erkrankung seines Bruders von den Ärzten genau erklären lassen und kümmert sich rührend um den Dreijährigen – auch im Notfall: Genau wie meine Eltern habe ich gelernt, Sauerstoff zu geben, Medikamente zu spritzen oder Elias, wenn nötig, in die stabile Seitenlage zu bringen, erklärt Marcel. Und der Wille, dem Kleinen zu helfen, geht noch weiter: Ich möchte unbedingt Arzt werden. Dann lerne ich, Krankheiten wie die meines Bruders zu verstehen und kann vielleicht eines Tages dabei helfen, sie zu heilen.

Freunde machen stark

Was Marcel und seine Familie aber wirklich traurig macht, ist das Unverständnis von Nachbarn, die sich gestört fühlen, wenn Elias wie andere Kinder auf dem Spielplatz spielt. Auch Beschimpfungen sind nicht selten. Gegen mich können sie etwas sagen, aber meinen Bruder werde ich immer verteidigen, sagt der tapfere Marcel. Fraglich ist, wie gut er auf Dauer mit dieser psychischen Belastung durch die Ablehnung anderer umgeht.

Kraft und Unterstützung findet er neben der Familie auch bei Freunden, mit denen er am liebsten Fußball spielt. Die Beziehung zu Elias empfindet er als ganz normal: Ich behandle ihn genau so, wie ich es bei einem gesunden Bruder auch machen würde. Für mich zählt Elias und nicht seine Krankheit. Wir spielen zusammen, manchmal nervt er mich, manchmal ich ihn und manchmal ärgern wir gemeinsam unsere Eltern.