Multiple Sklerose: Der längste Lauf seines Lebens

Der Ironman zählt zu den härtesten Wettkämpfen, denn er verlangt einen eisernen Willen. Florian Plehn – er lebt seit 20 Jahren mit Multipler Sklerose – nimmt die Herausforderung an. Wir haben ihn ein Stück auf seinem Weg begleitet.

Frühmorgens der letzte Blick auf die Wetter-App: 40 Grad sollen es werden, auf dem Radar ist nicht eine Regenwolke zu sehen. Es könnte der heißeste Tag des Jahres werden. Für Florian Plehn ist es auch einer der härtesten. Der 42-jährige Hamburger tritt in Frankfurt zum Ironman-Wettkampf an: knapp vier Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen, alles hintereinander weg. Wer da an sich zweifelt oder nicht herausragend fit ist, hat keine Chance.

Hawaii am Main

Die angekündigte Rekordhitze erschüttert ihn nicht. Anders als vielen anderen Menschen mit MS macht ihm die extreme Temperatur kaum etwas aus. Was Florian Plehn jedoch zu schaffen macht, ist sein linkes Auge: Damit sieht er seit einer krankheitsbedingten Sehnerv-Entzündung nur noch halb so gut wie vorher. Seit neun Jahren spritzt er intramuskulär einmal die Woche Interferone, er ist seitdem schubfrei und ohne Bewegungsstörungen.

Fast ebenso lange hegt er seinen Traum vom Ironman. Vor einem Jahr begann er mit dem Training (wir berichteten, NTC Impulse 4/14) – nie lange Strecken, aber er war jeden Tag in Bewegung. Kurz vor dem Starttermin traf ihn eine Muskelzerrung. Zehn Tage Zwangspause. Dennoch ist Florians Kampfgeist ungebrochen: Ich habe in Frankfurt 15 Stunden Zeit, das ist das reguläre Limit, aber solange werde ich nicht brauchen.

Doch dann sind die Bedingungen am Wettkampftag härter als gedacht. Es herrscht ein Höllenklima – wie beim legendären Ironman auf Hawaii. Florian Plehn atmet noch einmal tief durch am Strand des Langener Waldsees vor den Toren Frankfurts. In wenigen Minuten fällt der Startschuss zur Ironman-Europameisterschaft 2015. Mal sehen, wie es läuft, sagt Florian Plehn. Ich habe nicht vor, soweit an mein Limit heranzugehen, dass ich zusammenklappe.

Der ambitionierte Sportler kennt seine Grenzen und das weiß auch sein Arzt Dr. Lukas Schmitt. Er gab ihm grünes Licht für den Ironman: Intensiver Sport hilft meinem Patienten sehr, die MS zu bewältigen. Die enorme körperliche Anstrengung erhöhe sein Schubrisiko nicht. Mehrere Marathons hat Florian Plehn schon hinter sich und er hat immer darauf geachtet, dass er sich nach einem Lauf mindestens so gut fühlt wie vorher.

Kino im Kopf

Genauso wichtig wie das Muskeltraining ist für den Hobbyathleten die mentale Vorbereitung. Immer vor dem Einschlafen sah er sich unterwegs auf der Strecke, malte sich Bewegungsabläufe, Tempo und den Zieleinlauf aus. Florian Plehn, von Beruf Psychologe, hat sich monatelang konsequent konditioniert auf den längsten Lauf seines Lebens. So machen es auch Profisportler, um sich auf Spitzenleistung zu polen.

Aber wie stellt man sich entspannt auf eine Gewalttour ein? Ich denke nicht daran, dass vor mir 15 Stunden Dauerleistung liegen. Ich zerlege mir diesen Tag in überschaubare Etappen. Seine gewohnte Joggingstrecke in Hamburg ist etwa sieben Kilometer lang: Also sage ich mir, ich laufe keinen Marathon, sondern einfach sechsmal um die Alster.

Geht da noch was?

Der Startschuss fällt um Punkt sieben Uhr morgens. Der Mann mit der Startnummer 2123 stürzt sich ins Wasser und pflügt durch ein Meer blauer Badekappen. Vor ihm liegen, umgerechnet auf ein 50-Meter-Schwimmbecken, 76 Bahnen Brustschwimmen. Nach gut anderthalb Stunden steht er wieder am Strand und trocknet sich ab. Bestens sei es gelaufen, sagt Florian Plehn.

Jetzt umziehen und rauf auf das Rad. Die Tour ist so lang wie die Strecke von Frankfurt nach Straßburg. Schon steht die Sonne im Zenit, der Asphalt flimmert. Aufgeweichter Teer drückt sich ins Reifenprofil. Aber nicht die Hitze bremst die Fahrer, sondern die vielen Anstiege. Sechs Stunden hält er das durch, dann kippt Florian Plehn fast vom Rad. Ein kritischer Moment, in dem er sich fragt: Ist jetzt Schluss oder geht noch was?

Nur noch zehn Kilometer bis zum Ende dieser Etappe, also nicht mehr als eine Runde Radeln nach Feierabend, denkt der Hamburger. Nach ein paar Powerdrinks schwingt er sich wieder auf den Sattel. Gegen 17 Uhr liegt die Höllenetappe hinter ihm. Siebeneinhalb Stunden hat er gebraucht, seine Beine fühlt er kaum mehr und den Sonnenbrand auf den Schultern auch nicht. Und dann?

Dann bin ich einfach losgelaufen, erinnert sich Florian Plehn später. An jeder Station trinken, Salz und Elektrolyte tanken, durchatmen. Fünf Stunden hatte er eingeplant für den Marathon.

Ein Traum wird wahr

Irgendwann taucht der Römerberg am Horizont auf. Der Zieleinlauf im Zentrum Frankfurts ist nah. Jeder vierte der insgesamt 2.650 Teilnehmer hat da schon aufgegeben. Auf den letzten Metern zieht Florian Plehn noch einmal durch. Und dann ist er endlich angekommen – mit 14 Stunden und 39 Minuten ist er tatsächlich unter der Maximalzeit geblieben. Ich bin total erschöpft und glücklich, ich habe mir den Traum von Ironman erfüllt!

Mit einem gewaltigen Muskelkater, Unmengen von Glückshormonen im Blut und einem Riesenhunger auf Rührei mit Speck fährt Florian am nächsten Tag nach Hause. Ausruhen? Ja, kurz. Denn vierzehn Tage später will er wieder am Start stehen, beim Triathlon in Hamburg. Der geht nur über ein Viertel der vollen Distanz und ist für Florian Plehn in ein paar Stunden zu schaffen: So bleibe ich in Übung – vielleicht auch für den nächsten Ironman. kb