Psyche: Wie auf einem fremden Planeten

Denise Linke nimmt die Welt anders als andere wahr. Die junge Wahl-Berlinerin ist Asperger-Autistin und hat zudem ADHS. Trotzdem schreibt sie Bücher und gibt sogar eine Zeitschrift heraus, gemacht von Leuten wie ihr.

Manchmal reicht ein Satz, damit nichts mehr ist, wie es mal war. Wann hast du deine Diagnose bekommen?, waren die Worte, die das Leben von Denise Linke für immer verändern sollten. Es war im Sommer 2011, die damals 22-Jährige saß in ihrer WG in Los Angeles mit ein paar Freunden zusammen, als draußen ein Krankenwagen mit schriller Sirene vorbeifuhr. Intuitiv hatte die junge Frau sich die Ohren zugehalten – ebenso wie ihr Mitbewohner Sam, der die entscheidende Frage stellte und selbst Asperger-Autist war. Linke wusste damals noch nichts von ihrer Krankheit. Aber mein Instinkt sagte mir sofort, dass Sam Recht haben musste, erzählt sie. Sein Verdacht erklärte, warum ich mich mein ganzes Leben lang wie auf einem fremden Planeten gefühlt hatte.

Leben ist laut und grell

Zwei ärztliche Untersuchungen – eine in den USA, die andere kurz danach in Berlin – bestätigen die Vermutung. Linke hat ein Asperger-Syndrom, eine vermutlich genetisch bedingte Entwicklungsstörung, die unter anderem bewirkt, dass Reize völlig ungefiltert ins Gehirn eindringen, jedes noch so kleine Detail der Umgebung wahrgenommen wird. Für Denise Linke ist das Leben fast immer laut und grell. Ab und an genießt sie das, doch manchmal wird es unerträglich. Dann braucht sie eine Pause, muss sich zurückziehen. Ich habe mir das Rauchen angewöhnt, sagt sie, um mir diese Auszeiten leichter nehmen zu können. Vieles, was für andere selbstverständlich ist, musste Linke sich mühsam beibringen: Small Talk zu führen, dem Gegenüber in die Augen zu schauen, an den richtigen Stellen im Gespräch zu lächeln. Einiges hat sie gelernt, anderes bleibt ihr bis heute verwehrt. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, wenn es darum geht, die Mimik anderer zu deuten, sagt sie und lacht.

Ein Plan wird geschmiedet

Trotz vieler Schwierigkeiten in der Schule und an der Uni macht Linke ihr Abitur, studiert erfolgreich Politik und Geschichte. Ihr Traum ist es, Journalistin zu werden. Der zweite Wendepunkt in ihrem Leben wird nicht von einem Satz hervorgerufen, sondern von ganz vielen Sätzen: Ein Artikel zum Thema Inklusion, den sie im Sommer 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht, lässt Medien und Verlage auf die Autistin aufmerksam werden. Noch am gleichen Abend klingelte mein Telefon und es stand die nächsten Tage nicht mehr still, erzählt Linke. Die Anrufer bitten die begabte Autorin – die einen Artikel, für den andere zwei Tage bräuchten, in einer Stunde schreibt – um Interviews, wollen mehr über ihre Erkrankung wissen. Diese Phase meines Lebens hat mir unglaublich viel Selbstbewusstsein gegeben, sagt sie. Das Interesse anderer Menschen an ihr bestärkt sie in einem Plan, den sie sich ein paar Monate zuvor ausgedacht hat. Im Dezember 2013 stand sie eines Morgens unter der Dusche und überlegte, was sie später in der U-Bahn lesen könnte. Eine Zeitschrift von und für Autisten müsste es geben, dachte sie sich – und beschloss, da sie im Internet nichts dergleichen fand, selbst eine herauszubringen.

Es ist die Geburtsstunde von N#mmer, einem Magazin für Autisten, AD(H)Sler und Astronauten, wie es im Untertitel heißt. Mit Astronauten sind die anderen, die Normalos gemeint, die den fremden Planeten der Autisten und AD(H)Sler kennenlernen sollen. AD(H)S ist die Abkürzung für eine Aufmerksamkeits-Defizit-Störung, die oft, aber nicht immer von Hyperaktivität begleitet ist. Der Titel der Zeitschrift spielt mit einem Klischee: Ihr Autisten könnt doch so gut mit Zahlen, hatte ein befreundeter Chefredakteur gesagt. Zudem kommunizieren sie oft lieber übers Internet. Es ist weniger anstrengend, sagt Linke.

Mit Vorurteilen aufräumen

Autismus und AD(H)S sind zwei Erscheinungen, die sich in mancher Hinsicht ähneln. Oft kommen sie gleichzeitig vor. Auch bei Denise Linke wurde Ende 2014 ADHS diagnostiziert. Das hält sie von ihren Plänen aber nicht ab. In Berlin, wo die gebürtige Elmshornerin inzwischen lebt, spricht sie mit Redakteuren, Grafikern und potentiellen Autoren, sammelt über die Crowdfunding-Plattform Startnext mehr als 10.000 Euro für ihr Projekt. Nur ein Jahr nach dem folgenreichen Duschbad hält sie ihr erstes Heft in der Hand, Schwerpunkt der Ausgabe: die Liebe. Viele neurotypische Menschen denken ja, Autisten seien zu Liebe und anderen Gefühlen nicht fähig, sagt Linke. Ein Vorurteil, mit dem sie aufräumen will. Und so geht es in ihrem ersten Heft um Themen wie Online-Dating, Selbstliebe und darüber, wie sich AD(H)S auf Beziehungen auswirkt. Linke weiß, wovon sie spricht: Ihr Partner, mit dem sie seit letztem Herbst eine Wohnung teilt, hat ebenfalls ADHS. Genau 2.500 Hefte hat sie drucken lassen und eigenhändig verschickt. Inzwischen ist die Ausgabe vergriffen. Die Resonanz auf ihr Magazin ist groß: Ich bekomme jeden Tag Mails von Menschen, die mir schreiben, dass sie sich endlich verstanden fühlten, erzählt Linke, auf deren Arm ein N#mmer-Tattoo prangt, nicht ohne Stolz.

Leiden oder respektieren

Zwei weitere Ausgaben sind bereits erschienen, die dritte ist gerade in Arbeit. Um „Leid und Pride“ geht es darin. Unter Autisten und AD(H)Slern finden sich zwei große Gruppen, erklärt Linke. Die einen leiden unter ihrer Diagnose, die anderen respektieren sie und lassen sich ihren Stolz von ihr nicht nehmen. Die Journalistin hofft, mit ihrem Heft dazu beizutragen, dass sich die beiden Gruppen besser verstehen. Denn auch sie heimst von anderen Autisten nicht nur Lob ein. Nachdem sie im Oktober ihr autobiografisches Buch Nicht normal, aber das richtig gut herausgebracht hatte, zweifelten viele Leser an der Richtigkeit von Linkes Diagnose, öffentlich im Internet und nicht immer mit freundlichen Worten. Sie schrieben so seltsame Sachen wie: Wer sich die Haare färbe, könne keine Autistin sein, erinnert sich Linke, die – eigentlich brünett – auf dem Buchcover platinblondes Haar trägt. Ohnehin entspricht die junge Frau in vielerlei Hinsicht nicht den üblichen Klischees: Ich kann auch keine Telefonbücher auswendig lernen oder in Sekundenschnelle komplizierte mathematische Aufgaben lösen, sagt sie amüsiert. Doch schnell schreiben, das kann sie. Bereits kommenden Herbst soll ein weiteres Buch von ihr erscheinen. Sie erzählt darin die wahre Geschichte eines Vaters, dessen Söhne nach Syrien gegangen sind, um für den IS zu kämpfen. Damit nicht genug: Linke plant gerade ein weiteres Magazin: Diesmal eins speziell für Frauen, aber garantiert ohne Mode, Klatsch und Diäten, sagt sie. Dass sie vom Journalismus leben kann, ist eines ihrer Ziele. Doch es gibt noch ein größeres: Ich wünsche mir, dass sowohl Autisten als auch AD(H)Sler aufhören, sich untereinander zu beharken – und stattdessen anfangen, Probleme zu lösen, die uns alle angehen, sagt sie. Wir sollten uns zum Beispiel dafür einsetzen, dass die Talente jedes einzelnen von uns endlich erkannt und auch genutzt werden. Ein einziger Satz wird dafür ganz bestimmt nicht reichen. Aber viele Sätze dürften dazu beitragen, das Leben so mancher Autisten und AD(H)Sler zu verbessern.

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Nicht normal, aber das richtig gut – Mein wunderbares Leben mit Autismus und ADHS lautet der Titel von Denise Linkes Buch, das vergangenen Oktober im Berlin-Verlag erschienen ist. Sie beschreibt darin, wie es sich anfühlt, hochsensorisch durch die Welt zu gehen, und was es bedeutet, Freundschaften zu führen oder gar zu lieben, wenn bereits Blickkontakte und belanglose Gespräche als anstrengend empfunden werden. ISBN: 978-3-8270-1278-4. 208 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Preis: 20 Euro.