Psyche: Wenn der Boden nicht mehr trägt

Für Menschen, die an einem phobischen Schwankschwindel leiden, wird der Alltag häufig zur Tortur. Oft kann den Betroffenen mit einfachen Mitteln geholfen werden.

Die Attacken waren immer ähnlich. Doch sie überfielen Simone Körner* an ganz unterschiedlichen Orten. In der Schlange vor der Supermarktkasse zum Beispiel. In einer fast menschenleeren Bahnhofshalle. Im Gedränge des voll besetzten Fahrstuhls. Oft auch auf der Brücke, welche die heute 38-Jährige zweimal täglich auf dem kurzen Weg zwischen der S-Bahn-Station und ihrer Arbeitsstätte überqueren musste. Plötzlich war der Schwindel da – und mit ihm das Gefühl zu stürzen, manchmal ins Bodenlose. Ihr Herz raste, der kalte Angstschweiß trat ihr auf die Stirn.

Psychische Ursachen

Monatelang ging das so, bis sich Simone Körner fast nicht mehr aus dem Haus traute. Ihren Hausarzt hatte sie bereits aufgesucht. Doch der wusste auch nicht weiter und verwies seine Patientin an einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Womöglich spielte ja ihr Gleichgewichtsorgan im Innenohr verrückt. Aber weder der HNO-Arzt noch ein anschließend konsultierter Orthopäde, der Probleme mit der Halswirbelsäule als Auslöser für die Beschwerden vermutete, konnten eine organische Ursache finden.

Simone Körner gab nicht auf. Als sie schließlich eine Spezialambulanz für Schwindelerkrankungen aufsuchte, erfuhr sie, dass ihre Probleme nicht körperlich, sondern psychisch bedingt waren – und, was noch wichtiger war, dass ihr geholfen werden konnte. Die Diagnose, die sie nach einer umfangreichen Untersuchung erhielt, lautete: phobischer Schwankschwindel.

Noch immer kennen viele Mediziner die Erkrankung nicht. Dabei kommt sie gar nicht mal so selten vor. Der phobische Schwankschwindel ist die zweithäufigste Diagnose, die wir bei uns stellen, sagt Dr. Doreen Huppert vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ) am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München. Rund 15 Prozent aller Patienten am DSGZ seien von der Erkrankung betroffen. Attacken mit heftigem Schwindel sind dabei durchaus typisch, sagt Huppert. Oft sei aber auch ein Grundschwindel die ganze Zeit über vorhanden.

In gut einem Drittel der Fälle geht dem phobischen Schwankschwindel eine organische Schwindelerkrankung voraus – etwa ein sogenannter gutartiger Lagerungsschwindel, der beispielsweise beim Aufstehen oder bei einer Kopfdrehung auftreten kann. Er wird durch losgelöste Kristalle hervorgerufen, Otolithen genannt, die fälschlicherweise in einen Bogengang des Gleichgewichtsorgans geraten sind. Auch eine Entzündung dieses Organs hat mitunter einen phobischen Schwankschwindel zur Folge.

Ständige Verunsicherung

Bei den meisten Betroffenen lässt sich jedoch kein spezifischer Auslöser ermitteln, sagt Doreen Huppert. Vielleicht sei dem einen oder anderen einmal aufgrund eines niedrigen Blutdrucks schwindelig gewesen. Beim phobischen Schwankschwindel entsteht das Schwindelgefühl jedoch vor allem durch permanente ängstliche Selbstbeobachtung – aufgrund der Sorge, man könne ernstlich krank sein und die unangenehmen Symptome könnten wiederkehren.

Zu Beginn der Therapie erläutern die Münchener Ärzte den Krankheits-mechanismus. Die ständige Verunsicherung, so sagen sie ihren Patienten, erzeuge eine starke Sensibilisierung für sonst kaum wahrnehmbare Schwankungen. Dabei stehen die Patienten in Wirklichkeit meistens ganz sicher auf dem Boden – insbesondere dann, wenn in unseren Tests die Anforderungen an ihren Gleichgewichtssinn steigen, berichtet Doreen Huppert. Die Betroffenen müssten daher vor allem lernen, aus dem beschriebenen Teufelskreis herauszukommen.

Sich der Situation stellen

An dieser Stelle setzt die Therapie des phobischen Schwankschwindels an. Wichtig ist zunächst, den Patienten klarzumachen, dass keine organische Ursache vorliegt, sagt Huppert. Dazu sei eine umfangreiche Diagnostik erforderlich. Diese umfasst in der Regel eine Testung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr sowie eine umfassende neurologische Untersuchung. Vielfach wird auch eine Kernspintomografie des Kopfes vorgenommen, bei der die Ärzte besonderes Augenmerk auf den Hirnstamm und das Kleinhirn legen.

Im zweiten Behandlungsschritt lernen die Patienten, sich Situationen zu stellen, in denen die gefürchteten Schwindelattacken besonders oft auftreten. Auch Simone Körner suchte, anstatt sich zu Hause zu verstecken, nach und nach all jene Orte auf, die sie so unangenehm in Erinnerung hatte. Anfangs nahm sie zur Unterstützung eine Freundin mit, der sie von ihren Problemen erzählt hatte. Die beiden Frauen redeten und lachten zusammen – und verhinderten so, dass Simone Körner allzu sehr auf körperliche Beschwerden achtete.

Auch Sport, insbesondere Ausdauersport, hilft vielen Patienten, die Symptome des phobischen Schwankschwindels zu lindern. Ebenso können Gleichgewichtsübungen, wie sie auch in den Schwindelzentren vermittelt und erlernt werden, sinnvoll sein. Hilft das alles nichts, bieten wir den Patienten eine Verhaltenstherapie an, bei der sie gemeinsam mit einem Therapeuten lernen, ihre Angst vor dem Schwindel zu überwinden – und somit weiteren Attacken vorzubeugen, sagt Doreen Huppert. In sehr schweren Fällen setzen wir ergänzend ein paar Monate lang Medikamente ein. Bei den Arzneien handelt es sich meistens um SSRI, Selektive Serotonin-Wiederaunahme-Hemmer (englisch: Selective Serotonin Reuptake Inhibitors), die oft auch gegen andere Angststörungen und Depressionen verordnet werden. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass auf diese Weise drei Viertel aller Patienten mit phobischem Schwankschwindel langfristig geholfen werden kann. Auch am Ende der Beobachtungszeit, also im Schnitt 8,5 Jahre nach Abschluss der Therapie, waren die Studienteilnehmer noch beschwerdefrei. Wir entwickeln die Behandlung ständig weiter und hoffen, künftig noch mehr Patienten von ihrer Erkrankung befreien zu können, sagt Huppert.

Heute beschwerdefrei

Simone Körner hat ihre Schwindelattacken jedenfalls überwunden – ganz ohne Medikamente und Psychotherapie. Manchmal denkt sie noch mit leichtem Grauen an die vielleicht schwerste Zeit ihres Lebens zurück. Doch dann schieben sich andere Bilder vor die düsteren Gedanken und sie sieht sich lachend und schwatzend mit ihrer Freundin die Brücke überqueren. In diesen Momenten weiß Simone Körner: Sie hat es geschafft. ab

*Name von der Redaktion geändert