Multiple Sklerose: Ich bin selbst die Quelle meiner Freude.
Despina Sivitanides stand kurz vor dem Abitur und plante gerade eine Namibia-Reise, als sie die Diagnose erhielt, die ihr Leben veränderte: Multiple Sklerose. Siebzehn Jahre später ist die engagierte Philosophin und Mutter überzeugt, dass jeder sein Glück in die Hand nehmen kann – so wie sie es selbst getan hat.
Über ihrem Schreibtisch hängt ein Zettel, der ihr Lebensmotto auf den Punkt bringt: Weitermachen. Immer weitermachen!
Für Despina Sivitanides ist das kein theoretischer Motivationsspruch, sondern Fazit aus vielen Jahren Krankheitserfahrung. Sie war erst 18 Jahre alt und hatte den Kopf voller Zukunftspläne, als sie erfuhr, dass sie an Multiple Sklerose leidet. Eigentlich war sie gerade dabei, eine Reise nach Namibia vorzubereiten, um sich dort mit anderen Gleichaltrigen sozial zu engagieren. Die Diagnose Multiple Sklerose hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Meine erste Reaktion war: Jetzt ist alles vorbei
, erzählt die heute 35-Jährige.
An einen Fernflug war nicht mehr zu denken. Sie konnte drei Monate lang nicht zur Schule gehen und sich kaum auf ihr Abitur vorbereiten. Doch dann fand sie zu ihrer alten Stärke und Hartnäckigkeit zurück. Nicht, dass ich eine Optimistin geworden wäre
, stellt Sivitanides klar. Aber ich war von Anfang an lösungsorientiert und habe mein Leben in die Hand genommen.
So musste sie die anderen selbst über ihre Krankheit aufklären und sich gegen Mitschüler wehren, die sie stigmatisierten. Die hat bestimmt AIDS, so zerstochen wie ihre Arme sind
– Du musst sicher bald sterben
, das waren nur einige der Sprüche, die sie ertragen musste. Zudem kämpfte die junge MS-Patientin gegen bürokratische Hürden und skeptische Lehrer, sie holte den versäumten Stoff nach und verließ die Schule schließlich mit einem der besten Abiturzeugnisse ihres Jahrgangs.
Dem Schicksal trotzen
Seitdem hat sie unzählige Rückschläge bewältigt. Von ihrem Berufswunsch Meeresarchäologin musste sie sich verabschieden, denn ihn hätte sie mit MS nicht ausüben können. Kraft gab ihr die Philosophie – und so entschied sie sich, dieses Fach zu studieren. Manche MS-Schübe waren so schwer, dass die junge Frau zeitweise gelähmt oder erblindet war. Doch sie lernte, dass es immer weiter geht. Als sie nichts mehr sehen konnte, hörte sie sich Hörspiele an. Und als ihr linkes Bein gelähmt war und sie aufgedunsen vom Cortison im Krankenhaus lag, holte ihre Freundin und Fotokünstlerin Beatrice Gentry sie zum Fotoshooting ab, um das schönste Bild des Lebens
von ihr zu machen. Ein Schlüsselerlebnis war für mich, als ich für sechs Monate im Rollstuhl sitzen musste. Ich hatte meinen Freunden immer gesagt: Wenn ich in den Rollstuhl soll, bringe ich mich um. Aber wie man sieht, ging es weiter
, sagt Despina Sivitanides und lacht.
Heute ist sie Mutter eines vierjährigen Sohnes und treibt Sport, wann immer es ihr möglich ist. Sie hat ihre eigene philosophische Beratungspraxis, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Bochum – und promoviert in Philosophie.
Besonders liegt ihr am Herzen, ihre Erfahrung an andere MS-Patienten weiterzugeben. Sie engagiert sich ehrenamtlich und hat mit der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft das Projekt BAER gegründet, das Kinder und Jugendliche mit MS unterstützt. Die Philosophie helfe ihr dabei, sagt Sivitanides und zitiert einen weisen Spruch, der Bias von Priene zugeschrieben wird: Omnia mea mecum porto – alles was ich habe, trage ich bei mir.
Selbsthilfe als beste Medizin
Die Philosophin hat ihre eigene Strategie entwickelt, um mit Rückschlägen umzugehen – für sich selbst und für andere. Ihr Rezept besteht aus fünf Schritten.
- Katharsis: Die Gefühle zulassen, die der Rückschlag auslöst: Schmerz, Angst, Wut,
und ruhig richtig heulen!
. - Milde: Weitermachen. Aufstehen. Duschen. Sich ein richtig gutes Essen kochen. Mal etwas ganz anderes tun: zum Beispiel malen, tauchen oder die Natur erkunden.
- Terminieren: Einen Meilenstein-Plan erarbeiten: alles aufschreiben, was jetzt ansteht. Nach Prioritäten sortieren und dann mit Zeiten versehen.
- Selbstwirksamkeit: Diese Liste abarbeiten.
- Mindsetting: Ruhe bewahren! Immer ein
vielleicht
im Hinterkopf haben. Vielleicht funktioniert der Plan, vielleicht kommt etwas dazwischen.
So erfahre ich Selbstwirksamkeit. Ich bin selbst die Quelle meiner Freude und mache niemanden dafür verantwortlich, wenn es mal nicht so klappt. Und vielleicht stellt sich heraus, dass nicht Mut und Zuversicht entscheidend sind, sondern die Liebe zum Leben
, sagt Sivitanides.
Derzeit steht ihr ein Krankenhausaufenthalt bevor, der nichts mit der MS zu tun hat. Vor einigen Wochen wurde sie von einem großen Insekt gestochen und nun muss sie sich wegen einer beginnenden Vergiftung behandeln lassen. Das kann man nur mit Humor tragen – der ist sowieso unverzichtbar
, sagt Sivitanides. Eine Liste hat sie bereits gemacht, die will sie jetzt abarbeiten und schließlich die Tasche fürs Krankenhaus packen. Dann wird es schon wieder bergauf gehen – vielleicht. nk