Multiple Sklerose: Neue Therapien in Sicht

Kaum eine neurologische Erkrankung wird so intensiv erforscht wie die Multiple Sklerose. Zehn neue Immuntherapien sind seit 1995 auf den Markt gekommen. Jetzt stehen vier weitere am Start. Was ist von ihnen zu erwarten?

Multiple Sklerose lässt sich noch nicht heilen. Aber mit den neuen Wirkstoffen vergrößere sich das Therapiespektrum, um den unberechenbaren Verlauf der Autoimmunkrankheit besser zu kontrollieren, sagt Dr. Michael Lang. Der Neurologe mit eigener MS-Schwerpunkt-Praxis in Ulm sieht für seine Patienten in Zukunft eine Reihe zusätzlicher Behandlungsmöglichkeiten. Vor allem bei schlechteren Krankheitsverläufen lasse die nächste Generation von Substanzen erwarten, dass Betroffene noch lange trotz chronisch entzündlicher Nervenerkrankung aktiv bleiben können.

Was die neueren Substanzen besonders macht, sind ihre Wirkmechanismen, die sich voneinander wie auch von bewährten Therapieformen unterscheiden. Das Prinzip bleibt zwar nach wie vor gleich: Es geht darum, Entzündungen an Nerven in Gehirn und Rückenmark einzudämmen oder ihrer Ausbreitung vorzubeugen. Insgesamt erlaube die größere Auswahl an Medikamenten, Patienten auf lange Sicht noch gezielter zu behandeln, begrüßt Dr. Lang die bevorstehende Zulassungswelle.

Heute gibt es immer wieder Fälle, in denen bewährte Basistherapien, zum Beispiel Interferone oder Glatirameracetat, nicht mehr ausreichen. Es kommt dann plötzlich zu weiteren Schüben, zu neuen Narben im Nervengewebe und zu MS-typischen Körperbeschwerden. Man merkt etwa an Taubheitsgefühlen in den Beinen und Armen, an Gangproblemen oder wenn man tagsüber eine ungewöhnlich starke Müdigkeit verspürt, dass die MS trotz lückenloser Basistherapie offenbar voranschreitet. Der behandelnde Neurologe wird dann zunächst empfehlen, auf ein anderes Basistherapeutikum umzusteigen. Manchmal aber reicht ein Wechsel auf andere bewährte Therapien nicht, um die Krankheit wieder in den Griff zu bekommen. In dieser Situation können die vier neuen Substanzen neue Optionen eröffnen.

Daclizumab HYP

Dieser monoklonale Antikörper, der als Fertigspritze seit Juli 2016 erhältlich ist, eignet sich für die erste Stufe einer erweiterten Immuntherapie. In der Zulassungsstudie habe sich gezeigt, dass die Patienten mit einer Verlaufsform der Multiplen Sklerose, bei der Schübe auftreten und gleichzeitig auch die Behinderung voranschreitet, offenbar gut von Daclizumab profitieren können, berichtet Dr. Lang. Die Schubrate lässt sich demnach um 45 Prozent verringern, die Zahl neuer MS-Herde um 54 Prozent. Hinzu kommt, dass das Medikament nur alle vier Wochen gespritzt werden muss, sagt Dr. Lang. Für viele Patienten sei es entscheidend bei der Auswahl ihrer Therapie, dass sie größtmögliche Unabhängigkeit im Alltag zulasse, weiß Lang aus seiner Praxiserfahrung.

Cladribin

Der Wirkstoff Cladribin habe sich in Studien als sehr gut verträglich erwiesen, berichtet Professor Peter Rieckmann, Chefarzt der Neurologischen Klinik am Bamberger Klinikum. Da die Substanz nun bereits erfolgreich in mehreren Studien erprobt wurde, lägen derzeit Daten von insgesamt über 10.000 Patientenjahren vor, wobei einige Patienten mehr als acht Jahre lang nachbeobachtet wurden. Cladribin verringert selektiv die Zahl bestimmter Lymphozyten im Blut, die maßgeblich am Fortschreiten der MS beteiligt sind. Das ist ein ganz neuartiger therapeutischer Ansatz, sagt Rieckmann. Zudem sei diese orale Therapie durch ein besonderes Einnahmeschema vergleichbar komfortabel: Sie wird in kleinen Therapiezyklen an nur je fünf Tagen in zwei aufeinanderfolgenden Monaten gegeben, danach soll sie für ein ganzes Jahr vor Schüben, Behinderungen und neuen Entzündungsherden im zentralen Nervensystem schützen. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat den Antrag auf eine Marktzulassung für Cladribin angenommen: Verfügbar könnte das Medikament im Laufe des kommenden Jahres sein.

Ocrelizumab

Vielversprechend erscheint auch das Wirkprofil von Ocrelizumab. Die Substanz kommt infrage, wenn sich der Krankheitsstatus trotz Basistherapie deutlich verschlechtert hat. Neue Entzündungsherde konnten in den Zulassungsstudien zu 90 Prozent verhindert werden. Voraussichtlich Anfang 2017 kommt das Medikament auf den Markt. Verabreicht wird es als Infusion. Zum ersten Mal würde sich laut Professor Rieckmann damit eine wirksame Behandlung der primär progredienten MS anbieten – eine seltenere Krankheitsform ohne Schübe, aber mit einem hohen Risiko an bleibenden körperliche Einschränkungen.

Siponimod

Etwas länger wird es noch dauern, bis Siponimod, der vierte neue Wirkstoff, auf den Markt kommen könnte. Noch ist der Antrag auf Zulassung bei der EMA nicht gestellt. Die entscheidenden Studien seien aber durchaus erfolgreich verlaufen, weiß Dr. Lang zu berichten. Damit könnte bald ein weiteres Medikament zur Behandlung einer sekundär progredienten MS zur Verfügung stehen. Diese Krankheitsform entwickelt sich häufig in späteren Jahren aus der schubförmigen MS und verursacht bleibende neurologische Schäden.

Patientenaufklärung

Solange MS nicht geheilt werden kann, ist aus medizinischer Sicht die Freiheit von klinischer und messbarer Krankheitsaktivität das wesentliche Ziel der Behandlung. Deshalb sind Medikamente, die sich bei Bedarf für eine Ausweitung der Therapie eignen, so wichtig. Dabei komme es immer mehr auf die Mitwirkung des Patienten an, sagt Dr. Lang. Mit den neuen, hochwirksamen Therapien steigen die Anforderungen: Der Arzt muss die richtige Auswahl zu treffen wissen und Patienten sollten unbedingt bereit sein zu regelmäßigen, manchmal engmaschigen Kontrollen, etwa der Blut- und Leberwerte. Gegen den Willen des Patienten und ohne sein Verständnis der Therapie geht es nicht, sagt Dr. Lang, der die Patientenakademie Neuropoint in Ulm leitet. Schulungen für Patienten spielen eine enorme Rolle, um ihre Therapie optimal zu gestalten. Fast ebenso wichtig dafür seien häufige Kontakte zum behandelnden Arzt, zur MS-Schwester und eine fachkundige Therapiebegleitung für persönliche Fragen und Probleme, die – auch per Telefon oder mittels einer Smartphone-App ihren Sinn erfüllt. kb