Epilepsie: Feinfühlige Lebensretter

Eltern von epilepsiekranken Kindern fühlen sich meist verantwortlich dafür, jeden Anfall rechtzeitig mitzubekommen. Gleichzeitig wollen sie ihrem Nachwuchs Freiraum und Selbstständigkeit ermöglichen, um sich frei entwickeln zu können. Helfen kann in dieser Situation ein Assistenzhund, der vor Anfällen warnt und hilft, diese schnellstmöglich zu beenden.

Die kleine Schnauze stupst aufgeregt gegen Tims* Ohr. Der Vierjährige liegt bewusstlos auf dem Esszimmerboden der Hundezüchterin Manuela van Schewick, er hat einen stillen epileptischen Anfall. Ricky*, die zehnwöchige kleine Hündin, soll Tims zukünftige Beschützerin werden. Eben noch hat Tim auf dem Schoß seiner Mutter gesessen und einen Schmetterling an der Fensterscheibe bewundert, dann ist er eingeschlafen. Sein Vater bemerkte den Anfall an seinem starren Blick: Die Augen hatten sich wieder geöffnet und blickten ins Leere. Die Anfälle kommen oft unbemerkt und häufig im Schlaf, erzählt seine Mutter. Obwohl er nachts zwischen uns liegt, wissen wir nicht, ob wir alle Anfälle mitbekommen. Tim hat das seltene Dravet-Syndrom, eine Form der Epilepsie, die mit Medikamenten schwer einzustellen ist und sich durch sehr unterschiedliche Anfallsarten auszeichnet. Entsprechend breit muss der Hund ausgebildet sein – er darf nicht nur reagieren, wenn jemand zuckend am Boden liegt, sagt Manuela van Schewick. Genau deshalb ist es von großer Bedeutung, den Welpen so früh wie möglich mit dem Patienten, aber auch dem Rest der Familie vertraut zu machen. So lernt er schnell, auf die minimalen Veränderungen zu reagieren, die einen Anfall ankündigen.

Wenige Studien

Wissenschaftlich erforscht ist das Phänomen bisher noch wenig. Eine Studie des Deutschen Assistenzhunde-Zentrums zeigt, dass Hunde bei fokalen (nur bestimmte Regionen des Gehirns betreffenden) Anfällen auf eine sinkende Sauerstoffsättigung reagieren, die sie aufgrund minimal veränderter Atemgeschwindigkeit wahrnehmen. Wie sich dies bei generalisierten (nicht auf bestimmte Regionen im Gehirn eingrenzbaren) Anfällen verhält, die beim Dravet-Syndrom ebenfalls vorkommen, ist dagegen noch nicht erforscht.

Gespür entwickeln

Van Schewick achtet nicht nur darauf, dass die Elterntiere alle wichtigen Wesensmerkmale für die Zucht dieser speziell auszubildenden Labradore erfüllen. Sie sorgt auch dafür, dass die Welpen von Geburt an mit vielen verschiedenen Menschen unterschiedlichen Alters, Charakters und mit zahlreichen Umweltreizen in Berührung kommen. Das sensibilisiert sie für Veränderungen, und das ist unentbehrlich für ihre spätere Aufgabe, sagt van Schewick.

Akupunktur-Stellen lecken

Während Tims Mutter ihrem Sohn ein Notfallmedikament gibt, setzt die Züchterin die kleine Ricky direkt neben ihn. Später, in ein paar Monaten vielleicht, wird die Hündin ihm routiniert und intuitiv beistehen. Meist lecken die Hunde spezielle Stellen an Handgelenken, Füßen, Ohren oder zwischen Nase und Mund, um dabei zu helfen, den Anfall schneller zu beenden. Interessanterweise sind dies die gleichen Punkte, die bei Akupunktur und Akupressur bearbeitet werden, erzählt van Schewick, die bereits seit 20 Jahren Labrador Retriever für den therapeutischen Einsatz ausbildet. Zudem lassen sich die Hunde so trainieren, dass sie Medikamente bringen, Hilfe holen, einen Notfallknopf drücken und mehr.

Erste Annäherung

Komm, kämpf dich zurück – immer wieder ermuntern Tims Eltern ihren Sohn mit sanfter Stimme, bis er nach sieben Minuten endlich den Anfall überstanden hat. Er schaut seine Eltern kurz an, um gleich danach in einen tiefen Erholungsschlaf zu fallen. Sie wickeln ihn in eine Decke und legen ihn kurzerhand auf das große Hundekissen neben dem Fenster. Ricky legt sich neben ihn, die Schnauze auf seinen Beinen, und schläft ebenfalls ein. Mit solchen Begegnungen beginnt die lebenswichtige Vertrautheit zwischen Assistenzhund und Patient. Drei Tage verbringt die Familie bei der Züchterin in Meckenheim, dann wird sie den Welpen mit nach Berlin nehmen.

Aufgeregtes Bellen und Fiepen

Im Rückblick sind die Momente des Kennenlernens sehr bedeutsam: Das sagen viele, denen van Schewick Assistenzhunde vermittelt hat. Eine von ihnen ist die Familie des dreijährigen Noa, der aufgrund einer fehlgebildeten Hirnhälfte an epileptischen Anfällen leidet. Seine Mutter kann sich noch gut daran erinnern, wie sie vor einem Jahr hier waren. Als ihre kleine Hündin Nala das erste Mal auf Noas Schoß lag, wurde er schlagartig ruhig – und sie schlief ein. Schon mit sechs Monaten konnte Nala einen bevorstehenden Anfall anzeigen. Ich hatte Noa gerade ins Bett gebracht, da begann Nala unten im Haus wie wild zu bellen und zu fiepen. Sie wollte unbedingt hochkommen, erzählt Noas Mutter. Kurze Zeit darauf begann der Anfall – und die junge Hündin leckte beruhigend Noas Gesicht ab. Daran mussten wir uns erst einmal gewöhnen, aber inzwischen sind wir ein eingespieltes Team, berichtet die Mutter. Wir merken, wenn Nala nervös wird, weil etwas nicht stimmt. Und während des Anfalls macht sie die Hilflosigkeit erträglicher.

Sich gegenseitig lesen lernen – das sei die wichtigste Aufgabe, sagt van Schewick: Ich bilde nicht nur die Hunde aus, sondern auch die Halter! Schließlich müssten die Zeichen der Hunde auch richtig interpretiert und eine enge Beziehung aufgebaut werden. Auch Tims Mutter erhofft sich viel davon: Tim wird bald fünf und möchte auch mal etwas alleine machen. Mit Ricky an seiner Seite können wir ihn hoffentlich bald auch mal beruhigt ein paar Minuten unbeobachtet spielen lassen. nk

* Name von der Redaktion geändert.