Bewusst Leben im Alter: Die Kunst, sich selbst zu lieben

Wer selbstbestimmt leben und für sich Verantwortung tragen möchte, braucht vor allem eines: die Fähigkeit, sich selbst zu lieben. Menschen, die sich lieben, bringen sich selbst Achtung und Respekt entgegen, nehmen die eigenen Bedürfnisse ernst, hören auf die Sprache ihres Körpers und verdrängen weder Gefühle noch Probleme. All das lässt sich auch im hohen Alter noch erlernen.

Mit der Selbstliebe ist es so eine Sache. Manchen scheint sie bereits in die Wiege gelegt worden zu sein. Viele andere hingegen hadern ein Leben lang mit sich, oft ohne ersichtlichen Grund. Naturgegeben sind diese Unterschiede jedoch nicht.

Zwar konnte ein internationales Forscherteam um Dr. Aysu Okbay von der Erasmus-Universität Rotterdam im vergangenen Jahr in einer Studie mit fast 300.000 Teilnehmern tatsächlich Gene identifizieren, die mit dem Empfinden von Glück und der Zufriedenheit mit sich selbst in Zusammenhang stehen. Allerdings erklären die gefunden Erbanlagen weniger als ein Prozent der Unterschiede im Wohlbefinden der Probanden.

Was aber verhilft Menschen dann dazu, sich selbst und ihr Leben in einem positiven Licht zu sehen? Mit dieser Frage haben sich schon viele Wissenschaftler befasst. Und so weiß man heute, dass für Kinder und Jugendliche vor allem ein gutes Verhältnis zu den Eltern, Anerkennung im Freundeskreis, gutes Aussehen sowie schulische und sportliche Erfolge entscheidend sind.

Bei Erwachsenen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Ein positives Selbstwertgefühl wird bei ihnen insbesondere durch einen hohen Bildungsgrad, berufliche Anerkennung, eine glückliche Partnerschaft und gute Sozialkontakte hervorgerufen. Umgekehrt – und dieser Effekt ist sogar noch deutlich größer – trägt ein gesundes Maß an Selbstliebe auch entscheidend zu mehr Erfolg im Beruf und in der Partnerschaft bei.

Noch wenig wissen Psychologen allerdings darüber, was die Fähigkeit zur Selbstliebe im höheren Alter ausmacht – und wie beziehungsweise ob sie sich überhaupt aufrechterhalten lässt, wenn die körperlichen und geistigen Kräfte nachlassen, die äußerliche Attraktivität schwindet und auch die sozialen Kontakte nach und nach abnehmen.

Tatsächlich hat eine gemeinsame Untersuchung der Universität Basel und der University of California in Davis im Jahr 2014 gezeigt, dass die Fähigkeit zur Selbstliebe ihren Höhepunkt zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr erreicht. Danach nimmt sie – zunächst recht schnell, später etwas langsamer – wieder ab. Männer besitzen der Studie zufolge zwar oft ein höheres Selbstwertgefühl als Frauen, doch der typische Zeitverlauf betrifft beide Gechlechter gleichermaßen. In ihrer Untersuchung hatten Professor Ulrich Orth und Professor Richard Robins die Daten mehrerer großer Studien mit jeweils bis zu 7.000 Probanden ausgewertet.

Die Analyse brachte noch ein weiteres interessantes Ergebnis hervor: In manchen Lebensphasen scheint die Fähigkeit zur Selbstliebe stabiler als in anderen zu sein. Als besonders empfänglich für äußere Einflüsse zeigte sich die Kindheit und Jugend, überraschenderweise aber auch das Seniorenalter. Das Selbstwertgefühl zu steigern, dürfte also in diesem Alter die größte Aussicht auf Erfolg haben, schrieb Orth kürzlich im Magazin Gehirn und Geist.

Die Fähigkeit, sich selbst zu lieben, lässt sich erlernen – und anders als die meisten anderen Dinge offenbar insbesondere im fortgeschrittenen Alter. Fünf Punkte scheinen dabei besonders wichtig zu sein.

1. Bringen Sie sich selbst Achtung und Respekt entgegen.

Wie oft führen Sie sich eigentlich vor Augen, was Sie in Ihrem Leben Wertvolles geleistet haben? Haben Sie es überhaupt schon jemals getan? Wenn nicht, wird es höchste Zeit dafür. Setzen Sie sich hin, nehmen Sie Zettel und Stift zur Hand und schreiben Sie alles auf, was Ihnen einfällt.

Fühlen Sie sich oft wenig attraktiv? Dann stellen Sie sich einmal nackt vor den Spiegel, auch wenn es sich komisch anfühlt. Schauen Sie sich ganz genau an und sagen sich: Das bin ich, mit allen Vor- und Nachteilen. Und denken Sie daran: Kein Mensch ist perfekt.

2. Nehmen Sie Ihre Bedürfnisse ernst.

Wer immer nur versucht, es anderen recht zu machen, tut weder sich noch seinem Umfeld einen Gefallen. Setzen Sie Grenzen und lernen Sie, Nein zu sagen. Wenn Ihnen das bisher schwergefallen ist, fangen Sie in kleinen Schritten an. Nehmen Sie sich einen Nachmittag oder Abend in der Woche, an dem Sie ausschließlich das tun, was Sie sich wünschen. Treffen Sie Freunde, machen Sie einen Ausflug an einen Ort, den Sie schon immer mal besuchen wollten, oder gönnen Sie sich ein paar Stunden im nächst gelegenen Spa.

3. Hören Sie auf die Sprache Ihres Körpers.

Ihr Körper soll Ihnen noch viele Jahre ein verlässlicher Partner sein. Also behandeln Sie ihn so gut, wie Sie nur können. Verzichten Sie auf alles, was ihm schadet: Zigaretten, zu viel Alkohol, Fett oder Zucker. Bewegen Sie sich viel und schlafen Sie ausreichend. Gönnen Sie sich mit Ihrem Partner regelmäßige Streicheleinheiten oder, falls Sie allein sind, von Zeit zu Zeit mal eine Massage. Und nehmen Sie die Alarmzeichen Ihres Körpers ernst. Ein Körper, der immer dicker oder dünner wird, fühlt sich nicht wohl. Auch Schmerzen sind in aller Regel nicht dazu da, um ausgehalten zu werden.

4. Verdrängen Sie Ihre Gefühle nicht.

Haben Sie bislang geglaubt, negative Gefühle wie Wut, Hass, Angst oder Trauer hinunterschlucken zu müssen, damit Sie von anderen akzeptiert werden? Hören Sie auf damit! Jedes Gefühl hat seine Berechtigung und verdient es, ernst genommen zu werden – auch wenn andere es nicht nachvollziehen können. Versuchen Sie herauszufinden, woher Ihr Gefühl kommt, was genau Sie gerade wütend oder traurig macht. Gefühle sind der Wegweiser zu Ihrem Unterbewusstsein und jedes aktuelle Empfinden kann Ihnen helfen, sich selbst ein bisschen besser zu verstehen und zu akzeptieren.

5. Kehren Sie Probleme nicht unter den Tisch.

Situationen, die Sie belasten, müssen Sie als solche erkennen. Und dann suchen Sie nach Lösungen. Sprechen Sie mit den Menschen, die in diese Situationen involviert sind. Womöglich haben die anderen bislang nicht einmal bemerkt, dass es Ihnen damit nicht gut geht. Versuchen Sie, sich den anderen zu erklären, möglichst ohne Vorwürfe. Sprechen Sie in Ich-Botschaften. Also nicht: Du nimmst Dir nie genug Zeit für mich. Sondern lieber: Ich würde gerne, weil Du mir so wichtig bist, mehr Zeit mit Dir verbringen. Darauf kann Ihr Gegenüber viel positiver reagieren. ab