Bewusst Leben im Alter: Leben auf der Bühne

Sie sind in Rente und spielen die Rolle ihres Lebens: Die Schauspieler des Altentheaters in Köln bringen mit Leidenschaft eigene Stücke auf die Bühne.

Der Lachkrampf kommt unvermittelt und lässt sich einfach nicht stoppen. Heribert Bachem, 67 Jahre alt, sitzt auf einem roten Stuhl der Probebühne des Freien Werkstatt Theaters in Köln und übt die Bestellung seines Leibgerichts: versunkenen Apfelkuchen mit Walnüssen. Die Stimmtrainerin Sabine Falter hat ihn gerade dazu aufgefordert, seinen Text doch einfach mal zu singen. Mit diesem Trick könne man die Sprechstimme besser zum Klingen bringen. Aber Heribert Bachem kommt nicht weit: Bei jedem Versuch muss er von Neuem losprusten. Es ist Probenzeit im Altentheater: Wie jeden Mittwoch von 10 bis 14 Uhr sind die 27 Ensemble-Mitglieder zusammengekommen, um Theater zu spielen. Die Besonderheit: Alle sind in Rente, zwischen 65 und 95 Jahre alt, und stehen als Laienschauspieler regelmäßig auf der Bühne.

Das Alter nicht verstecken

Das erste, in dieser Art einzige und mehrfach ausgezeichnete Altentheater Deutschlands gibt es schon seit 38 Jahren. Dieter Scholz, ausgebildeter Schauspieler und in jungen Jahren an Staatstheatern beschäftigt, hat es 1979 als 42-Jähriger gemeinsam mit einer Schauspielkollegin gegründet. Dann übernahm seine Partnerin Ingrid Berzau zusammen mit ihm die Leitung der Gruppe. Beide haben für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz erhalten. Nach mehr als 30 gemeinsamen Jahren hat Scholz sich aus der Leitung zurückgezogen und ist nun selbst Ensemble-Mitglied.

Wir haben es damals ganz bewusst Altentheater genannt, erzählt Scholz: Man darf das Alter nicht verstecken. Die Bezeichnung Seniorentheater sei für die Gründer nicht in Frage gekommen. Seniorenteller, Seniorenreisen, alles ein bisschen kleiner, ein bisschen preiswerter – man wird eben nicht mehr für voll genommen, sagt Scholz. Das Altentheater setze aber gerade auf den Reichtum des Alters, den großen Erfahrungsschatz der Mitglieder: Ältere Menschen haben so viele Gechichten zu erzählen.

Vom Rollschuh zum Rollator

Genau deshalb ist es das Konzept des Altentheaters, dass das Ensemble eigene Stücke entwickelt, die besondere Momente, Erinnerungen und Erfahrungen aus dem Leben der Darsteller zeigen. Für viele Mitspieler ist diese Herangehensweise anfangs gewöhnungsbedürftig, doch dann sind alle schnell mit Leidenschaft dabei. Wir beide sind über einen Workshop zum Theaterspielen gekommen wie ein blindes Huhn zum Korn, erzählt Edi Solfrank. Er ist 87 Jahre alt und gemeinsam mit seiner Frau Maria, 89, bereits seit 25 Jahren beim Altentheater. Niemals hätten sie vorher gedacht, einmal selbst auf der Bühne zu stehen. Heute gehört Theaterspielen zu ihrem Leben. Wir haben also ein ganz wunderbares Korn gefunden, sagt Maria Solfrank. Sie kommt inzwischen mit dem Rollator zu den Proben – in einem ihrer ersten Stücke fuhr sie noch mit Rollschuhen über die Bühne. Heute hast du die Rollen eben neben deinen Füßen, nicht unter ihnen, scherzt Ingrid Berzau liebevoll.

Wenn Erinnerungen lebendig werden

Das aktuelle Stück heißt Lebenslied und handelt von der Heimat. Es thematisiert Momente aus der Kindheit der Mitspieler, Erinnerungen an Elternhaus, Vertreibung und Heimweh. Jede Inszenierung ist immer eine gemeinsame Suche, sagt die Leiterin Ingrid Berzau. Mithilfe von Improvisationsübungen, Gesprächen und Notizen entstehen in intensiver Arbeit aus vielen Einzelszenen die Stücke.

Diesmal hat Ingrid Berzau mit der Stimmtrainerin Sabine Falter Lieder eingebaut, die von den Mitspielern gesungen oder gesummt werden. Nutzt die musikalische Energie, ruft Falter ihrem Ensemble bei der Probe zu. Ihr geht es bei der Arbeit mit den Älteren darum, mithilfe der Stimme einen neuen Zugang zu sich selbst zu bekommen: Ich möchte Welten öffnen und die Schauspieler darin bestärken, sich authentisch zu zeigen. Durch den Gesang seien auch ihre Sprechstimmen ausdrucksstärker geworden.

Zugehörigkeit zur Gruppe

Die Menschen, die hier mitspielen, setzen sich einer Entwicklung aus. Sie entdecken völlig neue Seiten an sich und blühen auf, berichtet Ingrid Berzau. Sie beobachtet, dass Theaterspielen die Sinne öffnet, Menschen zusammenführt und die Lebenslust fördert. Ihr Fazit: Das Sprichwort ›Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr‹ ist totaler Quatsch.

Diese Meinung teilen die Mitspieler. Ich wollte im Alter noch mal etwas völlig Neues anfangen, das mich zufrieden und stolz macht, erzählt die 76-jährige Renate Maria Hirth. Eine große Motivation sei dabei gewesen, endlich einmal Teil eines Teams zu sein. In ihrem Berufsleben als Ärztin habe sie das vermisst. Das Zusammenspiel wecke ungeahnte Energien, berichtet Berzau: Jeder will unbedingt auf die Bühne. Ein Mitspieler hat sich für eine Aufführung sogar einmal aus dem Krankenhaus beurlauben lassen.

Keine Angst mehr vor Demenz

Charlotte Hermann, 66 Jahre alt und seit drei Jahren Teil der Gruppe, freut sich über die Fähigkeiten, die ihr neues Hobby wachruft: Das hat mir ein bisschen die Angst vor dem Älterwerden genommen. Mein Vater war dement und ich hatte immer große Sorge, dass mich das auch treffen könnte. Seit ich Theater spiele, ist diese Sorge komplett verschwunden. Ähnlich geht es Mario Betz, 73 Jahre alt, dessen Schwester dement ist. Wir reden hier gar nicht erst über Krankheiten, wir konzentrieren uns einfach aufs Theaterspielen, sagt er.

Die Gruppe spielt jedes Stück Dutzende Male, gibt Gastspiele, fährt in andere Städte und Länder. Und wenn es etwas zu feiern gibt, sind alle dabei. So wie beim 80. Geburtstag von Dieter Scholz, der mit der letzten Aufführung der Spielzeit zusammenfiel. Der Zuschauerraum war an diesem Donnerstagabend im Juni voll besetzt.

Nach einem gesummten Wiegenlied erfährt das Publikum von jedem einzelnen Mitspieler, was ihm jeweils in die Wiege gelegt wurde – zum Beispiel dass sich die Eltern einen Jungen oder ein Mädchen gewünscht hätten, oder die Erwartung, all das zu machen, was Vater oder Mutter nicht umsetzen konnten. Es folgen berührende Szenen, die von den Heimatgefühlen der Mitspieler erzählen. Von der Vertreibung aus dem Dorf (dann mussten alle reihum ihre Türschlüssel in eine Schüssel werfen: klack-klack-klack), vom betrübten Heiligabend auf einem Schiff, von Schneeballschlachten und selbstgepflanzten Bäumen. Und mittendrin bestellt Heribert Bachem dann mit klarer Stimme seinen versunkenen Apfelkuchen mit Walnüssen.

Nach dem begeisterten Applaus des Publikums feiern Ensemble, Theaterleitung, Förderverein und viele Freunde den Geburtstag des Altentheater-Mitgründers Dieter Scholz. An diesem Abend werden berührende Reden gehalten und Lieder gesungen, die ein beeindruckendes Lebenswerk würdigen. Dieter Scholz bedankt sich und bringt auf den Punkt, worum es ihm von Anfang an ging: Wir bleiben dran am Leben, egal wie alt wir sind. Wir hören nicht auf zu spielen! nk