Polyneuropathien: Wenn das Immunsystem verrücktspielt

Wenn sich das Immunsystem statt gegen Krankheitserreger gegen körpereigene Nervenstrukturen richtet, kann das schwerwiegende Folgen haben. Doch was passiert da eigentlich genau im Körper?

Zur Abwehr gegen Bakterien und Viren verfügt das Immunsystem über verschiedene Mechanismen. Neben der unspezifischen Abwehr, zu ihr gehören etwa Haut und Schleimhäute als erste Barriere, gibt es die spezifische Immunabwehr. Dabei verbinden sich nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip hochspezifische Eiweiß-Strukturen des Immunsystems (Antikörper) mit bestimmten Oberflächenmerkmalen der Erreger (Antigene). Die Antikörper werden von weißen Blutkörperchen, den B-Lymphozyten, freigesetzt. Weitere Zellen, die T-Zellen, machen auf den Angriff aufmerksam, schütten selbst Abwehrstoffe aus und aktivieren die Makrophagen. Diese Fresszellen vernichten den mit Antikörpern markierten Angreifer. Wurden die Erreger einmal vom Immunsystem erkannt, kann es beim nächsten Infekt schnell und effektiv mit den passenden Antikörpern reagieren – man spricht vom immunologischen Gedächtnis.

Gestörte Abwehr

Doch es kann auch zu fehlerhaften Reaktionen des Immunsystems kommen. Etwa wenn eigene Zellen für fremd gehalten und angriffen werden. Bei der Zerstörung körpereigener Strukturen handelt es sich um eine Autoimmunreaktion (auto = griechisch für selbst) mit möglichen schweren gesundheitlichen Folgen.

Zu solchen Autoimmunerkrankungen zählen unter anderem die entzündlichen Polyneuropathien, wie das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) oder die Chronische Inflammatorische Demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP). Bei diesen Krankheitsbildern greift das Immunsystem irrtümlich die Nerven an.

Nervensignale bleiben ungehört

Damit Nervensignale im Körper weitergeleitet werden können, verfügt eine Nervenzelle über lange Ausläufer, die bis zur nächsten Zelle reichen. Diese Axone sind von einer Isolierung aus Fett und Eiweiß ummantelt, der Myelinscheide. Sie ist in regelmäßigen Abschnitten durch die sogenannten Ranvier-Schnürringe eingeschnürt. Die elektrischen Signale springen von Ring zu Ring, wodurch eine hohe Nervenleitgeschwindigkeit erreicht wird.

Durch eine fehlerhafte Immunreaktion zerstören bei GBS und CIDP Autoantikörper und Abwehrstoffe (Zytokine) die Myelinscheide. Die Folge ist, dass Nervensignale nicht mehr weitergegeben werden.

Je nachdem, ob von der Schädigung sensorische oder motorische Nervenbahnen betroffen sind, kommt es bei Polyneuropathien zu Empfindungsstörungen, Muskelschwäche und Lähmungen.

Hilfreiche Immunglobuline

Es gibt auch Antikörper (Immunglobuline) – gewonnen aus dem Blutplasma von gesunden Spendern –, die im Rahmen einer Therapie gegeben werden können. Sie helfen dabei, Erreger zu erkennen, sie für das Immunsystem kenntlich zu machen und so Infektionen abzuschwächen. Zudem können sie bei entzündlichen Polyneuropathien eine unangemessene Immunreaktion stoppen oder abmildern. Neuere Forschungen von Wissenschaftlern um Professor Patrick Küry vom Universitätsklinikum Düsseldorf zeigen, dass Immunglobuline körpereigene Reparaturzellen auch bei der Regeneration geschädigter Nervenstrukturen unterstützen und dazu anregen, neue Axone zu bilden. Außerdem gelang es in aktuellen Studien, unter anderem an der Universität Würzburg, verschiedene Antikörper, die sich gegen die Myelinscheide richten, genauer zu identifizieren. Daraus könnten sich künftig, so die Hoffnung der Forscher, neue zielgerichtete Therapieansätze ergeben. ag