Epilepsie: Seide, Sex und Stroboskop: Ungewöhnliche Auslöser für Anfälle

Epileptische Anfälle können durch viele verschiedene Faktoren verursacht werden. Bei der seltenen Reflexepilepsie sind die Auslöser sehr speziell. Warum auch kontrastreiche Bilder zu Anfällen führen können, haben Forscher jetzt herausgefunden.

Was hat die Präsentation des Olympia-Logos 2012 mit der 38. Folge der TV-Kinderserie Pokémon von 1997 gemeinsam? Beide Filmsequenzen lösten epileptische Anfälle aus, sodass ihre Ausstrahlung anschließend verboten wurde. Die Pokémon-Folge, die nur einmal in Japan und seitdem nie wieder im Fernsehen gezeigt wurde, zog 685 Anfälle mit Krankenhauseinlieferungen nach sich. Die Videosequenz der Präsentation des Olympia-Logos 2012 hatte immerhin 18 epileptische Anfälle ausgelöst, bevor sie von der Website entfernt wurde.

Seltenes Phänomen

Dass bestimmte visuelle Reize epileptische Anfälle hervorrufen können, ist bekannt. Als häufigste Auslöser werden etwa Stroboskop-Blitze in Diskotheken oder schnelle Licht-Schatten-Wechsel bei Ausflügen in der Natur genannt. Es handelt sich dabei um Fotosensitivität – eine Unterart der Reflexepilepsie, die insgesamt aber selten vorkommt. Hajo Hamer, Pro-fessor für Neurologie und Leiter des Epilepsiezentrums an der Universität Erlangen, schätzt den Anteil der Epilepsiepatienten, die an Reflexepilepsie leiden, auf weniger als ein Prozent. Die Besonderheit dabei ist, dass aus-schließlich sehr spezielle Auslöser die Anfälle hervorrufen. Das Gehirn reagiert reflexartig auf einen – und nur diesen einen – ganz bestimmten Reiz, etwa ein markantes Geräusch, eine besondere Berührung oder eben gewisse visuelle Wahrnehmungen. Man spricht deshalb auch vom Schlüssel-Schloss-Prinzip, sagt Hamer. Innerhalb der Reflexepilepsie kommt die Fotosensitivität mit am häufigsten vor, so der Experte.

Hirnwellen durch Kontraste

Die genauen Ursachen einer Fotosensitivität waren bislang unklar. Nun hat die Neurowissenschaflerin Dora Hermes vom Medizinischen Zentrum der Universität Utrecht gemeinsam mit ihren Kollegen in einer Meta-Analyse die weltweit wichtigste Fachliteratur gesichtet, die sich mit neurologischen Mustern beschäftigt, die bei fotosensiblen Patienten im Ver-gleich zu Gesunden beim Betrachten bestimmter Bilder entstehen. Auch mit möglichen Ursachen für derartige Mus- ter hat sie sich intensiv beschäftigt. Dabei ist sie zu dem Schluss gekommen, dass epileptische Anfälle bei Fotosensibilität maßgeblich durch Gamma-Wellen im Gehirn ausgelöst werden. Diese Gehirnwellen im Frequenzbereich zwischen 30 und 80 Hertz entstehen im visuellen Kortex, einer Region, in der optische Reize verarbeitet werden. Bei empfindsamen Menschen mit Fotosensitivität treten sie beispielsweise auf, wenn sie Bilder mit breiten schwarzen und weißen Balken betrachten. Die Gamma-Wellen entstehen insbesondere dann, wenn die Betroffenen scharf konturierte, kontrastreiche Gittermuster anschauen. Je stärker die Kontraste, je breiter die Balken und je deutlicher das Gittermuster, desto mehr Gamma-Wellen wurden gemessen.

Der Neurologe Hamer bezeichnet die Ergebnisse als aufschlussreich: Wir hatten ja bisher noch keine Erkenntnisse über die Auslöser von Fotosensibilität, deshalb sind die neuen Befunde sehr interessant. Hamer warnt jedoch vor übereilten Reaktionen: Für praktische Anwendungen ist es noch zu früh.

Theorien in der Praxis testen

Denn bevor solche Erkenntnisse in die Therapie einfließen, müssen sie in streng kontrollierten Studien an Patienten erprobt werden. Im vorliegenden Fall müsse man, sagt Hamer, zwei Gruppen von fotosensiblen Patienten beobachten: eine, die sich in einer Umgebung aufhält, in der die auslösenden Muster – also etwa starke Kontraste – fehlen und eine Kontrollgruppe, bei der das nicht der Fall sei. Dann werde die Häufigkeit von Anfällen in beiden Gruppen verglichen. Es ist durchaus möglich, dass sich keine Unterschiede feststellen lassen, sagt Hamer. Deshalb muss erst mal nachgeprüft werden, ob die Annahmen überhaupt stimmen.

Sonnenbrille aufsetzen

Es gibt einige Maßnahmen bei Fotosensibilität, die nachgewiesenermaßen helfen und jedem Betroffenen empfohlen werden. Dazu zählt es, eine Sonnenbrille aufzusetzen, wenn man nach draußen geht und durch Alleen fährt: Die Verdunklung der Brille ver-ringert hier die anfallsgefährdenden Licht-Schatten-Kontraste. Auch Strobos-kop-Lichter in Diskotheken sollten Patienten mit fotosensibler Epilepsie vermeiden. Zusätzlich werden meist Antiepileptika eingesetzt, die gut helfen, sagt Hamer. Alle Empfehlungen gelten grundsätzlich für jeden Patienten, der von Fotosensibilität betroffen ist. Ob dies der Fall sei, lasse sich ganz einfach durch ein EEG (Elektroenzephalogramm, Aufzeichnung von Spannungsschwankungen im Gehirn an der Kopfoberfläche) feststellen.

Spezielle Auslöser bei Reflexepilepsie

Neben der Fotosensibilität gibt es zahlreiche andere Arten der Reflex-epilepsie (siehe Kasten). Die Auslöser können mitunter höchst spezifisch sein, berichtet Hamer: Eine meiner Patientinnen reagiert auf die Berührung feinster Strukturen wie Seide oder Zucker, und zwar nur dann, wenn sie diese zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand hält. Dabei handele es sich um eine kleine Fehl-anlage im Gehirn, deren Folgen mit einer konventionellen medikamentösen Epilepsietherapie behandelt werden.

Verzicht nicht immer Möglich

Nicht jeder auslösende Faktor lasse sich vermeiden, sagt Hamer. Ein Patient litt immer dann unter Anfällen, wenn er in einer bestimmten Position Sex hatte. Das möchte man ja nicht einfach bleiben lassen. Ganz und gar unvermeidlich seien lebensnotwendige Aktivitäten: Auf Essen und Trinken zu verzichten, ist schlicht nicht möglich, auch wenn dadurch etwa bei einer essinduzierten Reflexepilepsie Anfälle auftreten können. Insgesamt seien solche Fälle aber sehr selten, so der Neurologe: Patienten, die einen bestimmten Auslöser für ihre Anfälle vermuten, sollten das zunächst nicht überinterpretieren. Wichtig sei es, die Ursache gemeinsam mit einem Epileptologen abzuklären und dann eine individuelle Behandlung zu finden. nk