Multiple Sklerose: Für jeden Patienten das beste Präparat

Die Zahl der Medikamente gegen Multiple Sklerose ist groß. Und oft ist es nicht ganz leicht, aus der breiten Palette der Präparate genau das Mittel zu wählen, das zu der eigenen Situation am besten passt. Doch die Suche danach lohnt sich fast immer: Wer sein Medikament gefunden hat, wird die eigene Lebensqualität spürbar verbessern.

Jeder Mensch ist anders. Jede MS ist es auch. Nicht zu Unrecht wird die Multiple Sklerose als die Krankheit mit den tausend Gesichtern bezeichnet: Sowohl ihre Symptome als auch ihr Verlauf unterscheiden sich von Patient zu Patient.

Medikament muss zu einem passen

Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass die Betroffenen in ausführlichen Gesprächen mit ihrem Arzt aus der Vielzahl der Medikamente diejenigen Präparate heraussuchen, die am besten zu ihrer Erkrankung, aber auch zu ihrer persönlichen Lebenssituation und zu ihren Bedürfnissen passen, sagt die in Jena niedergelassene Fachärztin für Neurologie Dr. Barbara Schwandt.

Die Behandlung der MS steht auf drei Säulen: der Schubtherapie, der verlaufsmodifizierenden Therapie und der symptomatischen Therapie. Bei einem Schub – also dem erstmaligen oder erneuten Auftreten von Symptomen, die mindestens 24 Stunden lang anhalten, sich danach aber ganz oder teilweise wieder zurückbilden – kommen fast immer hoch dosierte Entzündungshemmer, sogenannte Glukokortikoide, zum Einsatz.

Bei dieser Hochdosis-Schubtherapie hat der Patient kaum eine Wahl: In der Regel wird ihm der Wirkstoff Methylprednisolon drei bis fünf Tage lang in die Venen gespritzt. Zuweilen nimmt der Betroffene das Kortisonpräparat anschließend noch etwa zehn Tage lang in abnehmender Dosis als Tablette ein. Auf diese Weise gehen die akuten Beschwerden und die ihnen zugrunde liegenden Entzündungsherde meist rasch zurück. Ganz anders sieht es bei der verlaufsmodifizierenden Therapie aus, mit der man spätestens dann beginnen sollte, wenn der erste Schub vorbei ist. Auf dem Markt sind inzwischen rund ein Dutzend Präparate, die sich in ihrer Wirkweise zum Teil erheblich voneinander unterscheiden. Das Ziel all dieser Medikamente ist jedoch das gleiche: Sie sollen die Zahl und die Schwere weiterer Schübe günstig beeinflussen und so das Voranschreiten der Krankheit aufhalten. Einige der auf dem Markt befindlichen Mittel sind als Basispräparate für eine milde bis gemäßigte MS gedacht, andere dienen der Behandlung eines hochaktiven Krankheitszustands.

Für dieses Jahr noch wird hierzulande zudem die Zulassung eines weiteren Präparats erwartet, das in den USA schon jetzt verschrieben werden darf: Der monoklonale Antikörper Ocrelizumab kann als erstes Arzneimittel überhaupt das Voranschreiten einer primär progredienten, das heißt von Beginn an chronisch fortschreitenden Multiplen Sklerose (PPMS) verzögern. Bislang galt diese Form der MS, unter der etwa 10 bis 15 Prozent der Betroffenen leiden, als nicht behandelbar. Darüber hinaus ist Ocrelizumab in den USA zur Behandlung der klassisch schubförmigen MS zugelassen, wo es in Studien besonders gute Ergebnisse gezeigt hat.

Unterschiedliche Formen der MS

Um welche Form der Multiplen Sklerose es sich handelt, müssen Arzt und Patient bei der Wahl des geeigneten Mittels nämlich ebenfalls berücksichtigen. Unterschieden wird zwischen vier Formen: dem klinisch isolierten Syndrom (KIS) als einem ersten möglichen Anzeichen für MS, der verbreiteten schubförmig-remittierenden, also in Schüben wiederkehrenden MS (RRMS), der PPMS und der sekundär progredienten MS (SPMS), einer chronisch fortschreitenden Krankheitsform, die sich aus der schubförmigen entwickeln kann.

Leider stehen uns Ärzten bei der Diagnosestellung keinerlei Biomarker zur Verfügung, die uns Informationen darüber liefern, welches Medikament bei einem Patienten optimal wirkt, sagt Professor Mathias Mäurer, Chefarzt der Klinik für Neurologie der Stiftung Juliusspital Würzburg. Angesichts dieser Unsicherheit ist es sinnvoll, die verlaufsmodifizierende Therapie auch an die persönlichen Bedürfnisse der Patienten anzupassen. Dazu ist es wichtig, dass sich der Betroffene zunächst einmal Gedanken darüber macht, was er sich von seiner Therapie erhofft und welche Sorgen und Ängste ihn vielleicht quälen. Mit welchen Nebenwirkungen käme er vermutlich zurecht, mit welchen nicht? Hat er beispielsweise Angst vor Spritzen? Dann wäre ein Medikament in Tablettenform vermutlich die bessere Alternative. Bevorzugt er ein Mittel, das regelmäßig jeden Tag einzunehmen ist? Oder fühlt er sich dadurch ständig an seine Krankheit erinnert, selbst wenn er gerade beschwerdefrei ist? In diesem Fall stünden ihm Präparate zur Verfügung, die in deutlich größeren Abständen eingenommen werden.

So ist beispielsweise vor Kurzem der Wirkstoff Cladribin für die Behandlung einer schubförmigen MS bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität zugelassen worden. Das Medikament wird geschluckt, und zwar im ersten und zweiten Behandlungsjahr nur jeweils zwei Wochen lang einmal am Tag. In der restlichen Zeit benötigt der Patient, sofern er schubfrei ist, keine Medikamente.

Dieses Anwendungsprofil ist sicherlich für viele Betroffene interessant. Doch ganz ohne Nachteil ist das Medikament, das in höheren Dosen und per Infusion auch bei bestimmten Leukämieformen zum Einsatz kommt, natürlich nicht. Manche Patienten scheuen sich beispielsweise davor, ein klassisches Chemotherapeutikum einzunehmen, das anders als die zielgerichtet wirkenden Antikörper prinzipiell alle Körperzellen beeinflusst. Zwar sind die Nebenwirkungen von Cladribin überschaubar, sagt Mäurer, doch dürfen Frauen unter einer Therapie mit diesem Wirkstoff beispielsweise nicht schwanger werden, da das Präparat das Ungeborene gefährdet.

Entscheidend für die Wahl eines bestimmten Wirkstoffs ist folglich auch die Lebenssituation, in der sich die Betroffenen befinden. Für eine Patientin, die gerne in der nächsten Zeit ein Kind bekommen würde, stehen andere Präparate zur Verfügung als für eine Frau, deren Familienplanung bereits abgeschlossen ist, sagt die Jenaer Neurologin Schwandt.

Lebensumstände mitentscheidend

Auch der Beruf kann bei der Wahl des passenden Medikaments eine Rolle spielen. Für Menschen, die beispielsweise sehr viel reisen und dabei unterschiedliche Zeitzonen passieren, kann ein Wirkstoff, der mehrmals täglich angewendet werden muss, weniger gut geeignet sein, sagt Mäurer. Oft wüssten diese Patienten ja gar nicht mehr, wann für ihren Körper gerade Morgen oder Abend sei. Auch ein Medikament, das eine permanente Kühlung erfordere, sei für Vielflieger eher ungeeignet.

Persönlichkeit des Patienten ist wichtig

Selbst die Persönlichkeit des Erkrankten ist bei der Entscheidung für das richtige Präparat von Interesse. Ein eher ängstlicher Mensch wird mit einem etablierten Mittel, das seit vielen Jahren auf dem Markt ist, wahrscheinlich besser zurechtkommen als mit einem gerade erst zugelassenen Medikament, das zwar vielleicht hochwirksam ist, über dessen Nebenwirkungen man aber vermutlich noch nicht alles weiß, gibt Mäurer zu bedenken. Darüber hinaus sei die Zuverlässigkeit des Patienten ein wichtiger Parameter. Manche Medikamente erfordern regelmäßige Blutkontrollen, um beispielsweise Leberschäden rechtzeitig zu erkennen, sagt Mäurer. In diesem Fall sollte ich mich als Arzt darauf verlassen können, dass der Patient diese Kontrolluntersuchungen wahrnimmt.

Schließlich sind bei der Wahl des optimalen Mittels auch mögliche Begleiterkrankungen des Patienten zu berücksichtigen. Interferone sollten beispielsweise nicht bei Depressionen verordnet werden, Patienten mit Lebererkrankungen müssen auf den monoklonalen Antikörper Daclizumab verzichten – um nur einige Beispiele zu nennen, sagt Schwandt.

Um all diese Aspekte wirklich berücksichtigen zu können und so zu dem individuell besten Präparat zu kommen, braucht es vor allem zweierlei: Zeit und Vertrauen. Um gemeinsam im Gespräch das optimale Medikament zu finden, nehme ich mir gerade vor Beginn der verlaufsmodifizierenden Therapie viel Zeit für meine Patienten und mache dafür am liebsten einen Extratermin aus, sagt Schwandt. Und ich versuche, jeden Patienten dazu zu bringen, mir möglichst viel von sich selbst, von möglichen Vorlieben, Abneigungen, Wünschen und Ängsten zu erzählen.

Gerade die Vielfalt der Optionen verunsichere die Patienten oft, sagt Mäurer. Selbst für manche Ärzte ist es zuweilen nicht ganz leicht, sich im Dschungel der unterschiedlichen Wirkstoffe zurechtzufinden – insbesondere wenn sie nicht auf die Behandlung der MS spezialisiert sind. Auch Ärzte des NTC-Netzes haben das Problem inzwischen erkannt. Sie haben daher vor einiger Zeit ein Big-Data-Projekt gestartet, das Neurologen die Therapieentscheidung erleichtern soll.

Algorithmus soll künftig unterstützen

Dazu haben sie mithilfe von IT-Experten einen Algorithmus, also eine mathematische Gleichung entwickelt, die auf der Grundlage eines umfangreichen Datenpools den wahrscheinlichen Krankheitsverlauf unter den verschiedenen Therapieoptionen ermittelt. Auf diese Weise kann der Arzt erkennen, welcher Wirkstoff dem Patienten voraussichtlich helfen wird und welcher eher nicht.

Die Daten für das Projekt entstammen dem ambulanten Patientenregister des NTC-Netzes. Dieses enthält medizinische Informationen von rund 25.000 Menschen mit Multipler Sklerose, die über viele Jahre hinweg gesammelt wurden. Ergänzt werden diese anonymisierten Daten von denen aus aktuellen klinischen Studien in aller Welt. Entscheidend für die Empfehlung zu einer bestimmten Therapie sind beispielsweise die Schubrate, das Ausmaß neurologischer Defizite, eventuelle Vortherapien, MRT-Bilder, Labordaten und Angaben der Patienten zu ihrer Lebensqualität. Ziel des Projekts sei es, jedem Arzt, der den Algorithmus nutze, das gesamte Wissen zur MS per Knopfdruck verfügbar zu machen, sagt Dr. Arnfin Bergmann, Neurologe, Psychotherapeut und NTC-Geschäftsführer.

Komplett ersetzen kann und soll das Programm die gemeinsame Entscheidung von Arzt und Patient für das richtige Mittel natürlich nicht. Es werde Sache des Neurologen bleiben, die Informationen, die der Algorithmus ihm liefere, im Kontext zu beurteilen und aus ihnen die richtigen Schlüsse für den Patienten zu ziehen, so Bergmann.

Und gerade der Erkrankte selbst soll bei der Wahl des passenden Mittels schließlich das letzte Wort haben. Je überzeugter ein Patient von dem von ihm gewählten Medikament ist, desto eher wird er seine Therapie konsequent einhalten, ist der Würzburger Neurologe Mäurer überzeugt. Das Durchhaltevermögen des Patienten ist nach Ansicht des Mediziners der allerwichtigste Faktor: Wer die Behandlung der MS schleifen lasse, müsse oft schon in relativ jungen Jahren mit ausgeprägten Behinderungen rechnen.

Doch umgekehrt gilt auch: Wer seine Medikamente beständig und wie vorgesehen einnimmt, kann trotz der Erkrankung auf ein langes und weitgehend beschwerdefreies Leben hoffen. Alle auf dem Markt befindlichen Medikamente gegen MS haben gezeigt, dass sie einen starken Effekt auf die Entzündungsaktivität haben, wenn sie langfristig und zuverlässig eingenommen werden, sagt Mäurer. Somit sollte der Arzt die persönlichen Wünsche des Patienten stets so gut es geht berücksichtigen – selbst wenn dieser sich das Medikament nur deshalb wünscht, weil ein guter Freund es ihm empfohlen hat.

Unruhe in der Therapie vermeiden

Und auch wenn das Finden des idealen Medikaments fast immer nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip erfolgt: Zu viel Unruhe in der Therapie, darinsind sich die Experten einig, sollte vermieden werden. Die meisten Präparate brauchen einige Monate, bis sie ihre Wirkung entfalten, sagt die Jenaer Neurologin Schwandt. Über einen Wechsel des Medikaments sollten Arzt und Patient daher frühestens nach einem halben Jahr nachdenken, bei manchen Mitteln auch erst nach einemJahr. Ein schneller Wechsel ist höchstens dann angebracht, wenn es bei einer hochaktiven MS unter der gewählten Therapie immer wieder zu Schüben kommt, sagt die Medizinerin.

Mindestens so individuell wie die verlaufsmodifizierende Therapie ist schließlich die dritte Säule der MS-Therapie: die symptomorientierte Behandlung – die nicht nur rein medikamentös erfolgt, sondern beispielsweise auch physio- und psychotherapeutische Anwendungen umfassen kann. Typische Symptome, die aber längst nicht bei jedem Patienten auftreten müssen, sind beispielsweise Schmerzen und Missempfindungen wie Taubheit oder Kribbeln in Armen und Beinen, Muskelverspannungen bis hin zu Spastiken, daraus resultierende Gangstörungen, Blasenfunktions- und Sexualstörungen, Fatigue, also eine ausgeprägte Müdigkeit und Erschöpfung, sowie Depressionen, sagt Schwandt.

Beschwerden nach Bedarf lindern

Inwieweit solche Symptome zu behandeln sind, sollte der Patient nach Ansicht der Neurologin ebenfalls mitentscheiden. Vielfach sind die Beschwerden nur leicht und können von den Betroffenen gut toleriert werden – vielleicht auch allein deshalb, weil sie nicht mehr Medikamente als unbedingt nötig einnehmen wollen, sagt Schwandt und fügt hinzu: Wichtig ist auch hier, dass der Patient weiß: Die meisten Symptome lassen sich lindern. ab