Multiple Sklerose: Mit PHREND zur besten Therapie
Welcher Wirkstoff im individuellen Fall hilft und welcher eher nicht, wird bisher meist aufwändig über Versuch und Irrtum ermittelt. Ein neues Computerprogramm kann den Weg zur optimalen Behandlung einer Multiplen Sklerose deutlich verkürzen. Dabei verwendet das Programm reiches Erfahrungswissen und aktuelle Forschung.
Die junge Frau hat vor zwei Jahren die Diagnose Multiple Sklerose (MS) erhalten. Mit dem Medikament, das ihr damals verschrieben wurde, kam sie in letzter Zeit nicht mehr so gut zurecht. Sie möchte etwas anderes ausprobieren und sucht daher die Sprechstunde auf. Nach einem ausführlichen Gespräch greift der Arzt nicht gleich zum Rezeptblock, sondern konsultiert erst einmal ein spezielles Computerprogramm. Es informiert ihn umfassend über Präparate, die besonders gut zu den individuellen Erfordernissen der Patientin passen und ihr voraussichtlich am besten helfen.
Was wie Zukunftsmusik klingt, wird derzeit in einigen ausgewählten MS-Zentren getestet. Die dort tätigen Fachärzte arbeiten als erste mit einer neuen Software zur individualisierten Therapie ihrer Patienten. PHREND lautet der Kurzname des Programms; er steht für Predictive Healthcare with Real World Evidence for Neurological Disorders
, auf Deutsch: Prädiktive Gesundheitsversorgung bei neurologischen Störungen. In den MS-Zentren wird PHREND auf Herz und Nieren geprüft, um es noch besser an die Bedürfnisse von Patienten und Ärzten anzupassen. Anfang 2018 soll eine praxiserprobte Version allen Ärzten zur Verfügung gestellt werden, die sich im bundesweiten Netzwerk NeuroTransData (NTD) zusammengeschlossen haben. NTD vereint mehr als hundert Spezialisten aus den Bereichen Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie.
Medizinisches Wissen auf Knopfdruck
Es gibt eine Vielzahl von Medikamenten gegen Multiple Sklerose und selbst Mediziner tun sich gelegentlich schwer, das große Angebot zu überblicken – vor allem dann, wenn sie nicht auf die Behandlung dieser Krankheit spezialisiert sind. Hier setzt das neue, im Bereich MS derzeit einzigartige Programm an. Sein Name, der an das englische Wort für Freund erinnert, ist gewissermaßen Programm: Mit PHREND wollen wir Ärzten zur Seite stehen und ihnen die Therapie-Entscheidung erleichtern, indem wir ihnen quasi auf Knopfdruck das aktuelle Wissen über Multiple Sklerose zur Verfügung stellen
, sagt Dr. Arnfin Bergmann, Neurologe, Psychotherapeut und NTD-Geschäftsführer. In den vergangenen beiden Jahren hat ein Team um Bergmann und Philip van Hövell, Mathematiker beim Schweizer Beratungsunternehmen PWC, die Software entwickelt. Vorerst steht die schubförmige Variante der Krankheit im Fokus; eine Ausweitung auf andere Formen der MS ist geplant, wie die Verantwortlichen ankündigen.
Bislang basiert die Entscheidung für eine bestimmte Therapie vor allem auf dem Erfahrungswissen des Arztes. Wirkt das verordnete Präparat nicht oder treten inakzeptable Nebenwirkungen auf, beginnt die Suche nach einem besser geeigneten Medikament. Meist nähert man sich dem Ziel über Versuch und Irrtum – ein langwieriger, aufreibender und kostspieliger Prozess.
Eine gut begründete zweite Meinung
Dem setzen Arnfin Bergmann und sein Team nun eine rationale Methode entgegen, die auf einem eigens entwickelten mathematischen Funktionsprinzip beruht. Innerhalb von Sekunden durchforstet dieser Algorithmus eine Vielzahl von praxisbezogenen Daten und liefert dann eine Prognose – etwa für die Patientin, die gerade ein neues Medikament braucht.
Auf dem Bildschirm ihres Arztes zeigt das Programm, wie sich die Krankheit unter dem Einfluss verschiedener Therapien aller Voraussicht nach entwickeln wird. Auf diese Weise lässt sich erkennen, welcher Wirkstoff dem Patienten wahrscheinlich helfen wird und welcher eher nicht. Bergmann: Damit liefert PHREND etwas, was viele Patienten wünschen: eine gut begründete und dem neuesten Stand des Wissens verpflichtete Zweitmeinung.
Auf der Basis langjähriger Erfahrung
Herzstück des neuen Big-Data-Instruments sind die Therapiedaten von rund 25.000 Menschen mit Multipler Sklerose, die innerhalb des ambulanten NTD-Netzwerks mit zurzeit 76 Praxen behandelt werden. Damit sind etwa 20 Prozent der MS-Patienten in Deutschland in dem Programm repräsentiert. Im Durchschnitt sind die Patienten fünf Jahre bei uns in Behandlung
, berichtet Arnfin Bergmann, und die meisten von ihnen konsultieren vier Mal jährlich ihren Arzt.
Mit der Zeit kommt so eine Fülle von Informationen zusammen: zu Diagnostik, Therapie und Krankheitsverlauf, aber auch zu Nebenwirkungen, Lebensqualität und Kursänderungen in der Behandlung. PHREND filtert aus den Informationen über zurückliegende Behandlungen die entscheidenden Erkenntnisse für den aktuellen Fall heraus und reichert das Ergebnis mit den Resultaten internationaler Patientenstudien sowie aktueller Behandlungsleitlinien medizinischer Fachgesellschaften an. Insofern basieren die Optionen, die das Programm aufzeigt, auf einem reichen Erfahrungsschatz und entsprechen zugleich der neuesten medizinischen Forschung
, resümiert Arnfin Bergmann.
Was die Patienten wünschen
PHREND ordne die infrage kommenden Medikamente nach ihrem Stellenwert im individuellen Fall, greife der ärztlichen Entscheidung jedoch nicht vor, sagt der NTD-Geschäftsführer. Das Programm sei komplett nach objektiven Kriterien und frei von Pharma-Interessen entwickelt worden – also von Ärzten für Ärzte
, wie Bergmann betont. Die Therapiefreiheit sei ein hohes Gut und werde ebenso wenig angetastet wie die gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient. Dabei spielen die Wünsche des Patienten eine wichtige Rolle: Bevorzugt er zum Beispiel ein Medikament zur oralen Einnahme oder wünscht ein seit Langem erprobtes Präparat, passt das Programm die Therapie-Informationen entsprechend an. Es werde Sache des Neurologen bleiben, die Informationen, die der Algorithmus liefere, im Kontext zu beurteilen und daraufhin die richtigen Schlüsse für den Patienten zu ziehen, sagt Arnfin Bergmann: Wir wollen lediglich das ärztliche Wissen ergänzen, um eine optimale Entscheidung für den einzelnen Patienten zu ermöglichen.
Davon dürften die Patienten schon bald profitieren. Vor allem in ländlichen Gegenden ist es oft schwierig, einen Spezialisten für eine Zweitmeinung zu finden – hier könnte PHREND eine Lücke füllen. Darüber hinaus werde man wichtige Krankheitsdaten grafisch aufbereiten und den Betroffenen zur Verfügung stellen, sagt Arnfin Bergmann: Dann können Patienten auf ihrem Smartphone, Tablet oder Computer den Verlauf verfolgen, wie sich beispielsweise ihre Schubrate entwickelt und welche Veränderungen es im Blutbild oder bei den Entzündungsherden im Gehirn gibt.
In diesen Wochen bereite man zudem eine Internetplattform vor, auf der sich Patienten informieren und austauschen können – auch ein Newsletter sei in Arbeit. Patienten sollen künftig auch die Möglichkeit erhalten, eigene Krankheitsdaten mit anonymisierten Verläufen anderer Patienten zu vergleichen.
Geprüftes Konzept für den Datenschutz
Apropos Anonymität: Zum Schutz von Patientendaten habe man ein aufwändiges Sicherungskonzept entwickelt, berichtet der NTD-Geschäftsführer: Wir sind da aus-gesprochen vorsichtig.
Ohne das schriftliche Einverständnis des Patienten gehe gar nichts: Er bleibe immer Herr seiner Daten und entscheide, ob diese erhoben und weiterverarbeitet werden dürfen. Sofern der Patient grünes Licht gegeben hat, werden seine personenbezogenen Informationen verschlüsselt und dezentral in den Praxen gespeichert, wo sie nur der behandelnde Arzt einsehen kann. Davon strikt getrennt sind die medizinischen Daten; sie werden auf einem Hochsicherheitsserver gespeichert. Zusammenführen lassen sich die beiden Datenströme ausschließlich in der Praxis des behandelnden Arztes – dafür muss ein spezieller Code vom Institut für medizinische Informatik in München angefordert und die Unterschrift des Patienten eingeholt werden. Arnfin Bergmann: Unser Datenschutzkonzept wurde von mehreren Ethikkommissionen geprüft, unter anderem von der Bayerischen Landesärztekammer und der Ärztekammer Nordrhein.
Während PHREND die ersten Schritte in der Therapieunterstützung bei MS macht, planen seine Schöpfer bereits die nächsten Etappen. Schon jetzt ist das System darauf ausgelegt, ständig weitere medizinische Informationen wie beispielsweise genetische Daten aufzunehmen, zu verarbeiten und dabei jedes Mal dazuzulernen. Auch ganz neue Anwendungen seien möglich, sagt Arnfin Bergmann. Das Programm sei im Prinzip auch für andere neurologische Krankheiten geeignet und in diese Richtung werde man es jetzt weiterentwickeln. Darüber hi-naus sei der Einsatz auf zusätzlichen medizinischen Gebieten denkbar, etwa bei Rheumapatienten oder anderen internistischen Erkrankungen.
Aber zunächst gilt es, das neue Instrument in der Fachwelt bekannt zu machen. Derzeit wird PHREND auf nationalen und internationalen Medizinkongressen und in einschlägigen Fachzeitschriften vorgestellt. Arnfin Bergmann: Das Interesse ist groß und es wird noch weiter wachsen.
lb