Multiple Sklerose: Medikamente, die man nicht nimmt, können auch nicht wirken

Dr. Michael Lang, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Verkehrs- und Umweltmedizin aus Ulm, spricht im NTC Impulse-Interview über fehlende Adhärenz in der Multiple Sklerose-Therapie und sagt, was man zur Steigerung der Therapietreue tun kann.

Dr. Lang, Adhärenz bezeichnet die Therapietreue von Patienten. Wann ist ein MS-Patient adhärent?

Es gibt Untersuchungen, wonach die durchschnittliche Therapietreue bei ungefähr 50 bis 60 Prozent liegt. Das heißt, die Patienten wenden auch nur diesen geringen Prozentsatz der verordneten Medikation tatsächlich an. Das reicht natürlich nicht aus, um effektiv zu behandeln. Optimal wären 100 Prozent. Als Kompromiss hat sich durchgesetzt, dass ab einer 80-prozentigen Anwendung des Therapieplans eine einigermaßen ausreichende Therapietreue besteht. Unterhalb dieser Marke kommt es nachgewiesenermaßen häufiger zu erneutem Auftreten von Schüben und zu Verschlechterungen im Krankheitsverlauf. Etwa ein Drittel der Patienten bricht die Therapie übrigens bereits innerhalb der ersten drei Behandlungsmonate ab, nach sechs Monaten sind es durchschnittlich bis zu 45 Prozent und nach einem Jahr je nach Präparat bis zu 62 Prozent.

Was sind eigentlich die Gründe dafür, dass Patienten aus der Therapie aussteigen?

Viele geben die Nebenwirkungen der Medikamente als Grund an. Manchmal ist es auch die konkrete Lebenssituation: Man ist gerade in seiner aktiven Lebensphase, denkt an Familienplanung, hat Karrierepläne. Auch das Gefühl, es gehe einem doch eigentlich ganz gut, führt ganz häufig dazu, dass Patienten die Medikation einstellen. Es sind also überwiegend nicht-therapieassoziierte Argumente, die Patienten vorbringen, um den Abbruch der Medikamenteneinnahme zu rechtfertigen. Allen voran das Argument, man habe es vergessen oder keine Lust gehabt. Das ist das Traurige und zugleich eine ganz wichtige Erkenntnis.

Warum?

Weil sie direkt zur Lösung des Problems führt. Und die heißt: Ich muss als Arzt ständig mit meinem Patienten kommunizieren und ihn motivieren. Es muss also häufiger Kontakte zu ihm geben. Es ist auch notwendig, mehr Aufklärung zu betreiben und am Problembewusstsein des Patienten zu arbeiten. Leider wirkt unser auf Pauschalen und Budgets aufgebautes Honorarsystem dem entgegen. Es sorgt dafür, dass die Patienten teilweise allein gelassen werden.

Wie passt dann der neuerdings in der MS-Therapie verfolgte Ansatz des Shared-Decision-Makings, also die partnerschaftliche Entscheidung von Arzt und Patient über die Therapie, hierzu? Erfordert das nicht, über dem Denken in Pauschalen zu stehen und sich für den Patienten Zeit zu nehmen, wann immer es notwendig ist?

Ja, das ist so. Aber das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte ist das Wissen der Patienten – oder man sollte eher sagen: das nicht vorhandene Wissen. Shared-Decision-Making setzt voraus, dass sich zwei gegenübersitzen, die auf Augenhöhe über die Krankheit und notwendige Therapieschritte sprechen können. Mit anderen Worten: Shared-Decision-Making macht Sinn – aber nur mit einem informierten Patienten. Deshalb kommt es darauf an, dass wir Ärzte unsere Patienten dazu befähigen, gemeinsam Entscheidungen treffen zu können.

Sie haben diesen hehren Anspruch mit der Gründung einer Patienten-akademie im Jahr 1999 in die Tat umgesetzt. Was leistet sie und wie wird sie von den Patienten angenommen?

NeuroPoint gibt es jetzt seit 17 Jahren. Bis heute nehmen jährlich etwa 2.500 Patienten an unseren Schulungen teil. Sie erhalten dort umfassende Informationen außerhalb der Sprechstunde. Ein MS-Patient hat bei uns Anspruch auf sechs bis sieben Stunden kostenlose Seminarzeit pro Jahr. In diesen Seminaren geht es um die strukturierte Beantwortung von Fragen wie: Was sind Schübe und was bedeuten sie? Wie kann man mit der Krankheit leben? Was ist mit Sport und Freizeitaktivitäten oder mit Versicherungen? Es geht eigentlich um alle Bereiche des Lebens, die von der Krankheit irgendwie betroffen sind. Diese Aufklärung können Sie in der normalen Sprechstunde gar nicht leisten.

Haben Sie untersucht, welchen Beitrag Ihre Patientenschulungen auf die Therapietreue haben?

Ja, das haben wir tatsächlich gemacht. Und das Ergebnis war: Es gibt drei Faktoren, die bei der Therapietreue eine wichtige Rolle spielen – die Sprechstunde beim Arzt, der Besuch in der Patientenakademie, die Sprechstunden bei der MS-Nurse. Signifikant in der Einzelbetrachtung waren aber nur die Nurse und die Patientenschulung. Mit anderen Worten: Die Kontakte zum MS-Zentrum entscheiden über die Therapietreue, nicht die Sprechstunden beim Arzt.

Das Erinnern an alles Wichtige rund um die Therapie könnten spezielle Apps übernehmen. Die Digitalisierung bietet da heutzutage doch viele Möglichkeiten. Sie selbst haben eine App entwickelt. Wie funktioniert die?

Zu jedem Medikament mit seinen individuellen Nebenwirkungen gibt es sogenannte Risk-Management-Pläne. Diese empfehlen zum Beispiel, wann welche Untersuchungen sinnvoll sind. Kein Arzt kann seine Patienten an alle diese Termine erinnern und den meisten Patienten wird das auch irgendwann zu viel. Trotzdem halte ich es für wichtig, dass die Termine eingehalten werden. Deshalb habe ich die App Patient Concept entwickelt. Damit können Patienten ihre Therapiemaßnahmen, Rezeptbestellungen, Sprechstundentermine und einiges mehr managen. tl

Dr. med. Michael Lang
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Ulm