Multiple Sklerose: Liebe und Sex neu entdecken

Wer die Diagnose Multiple Sklerose erhalten hat, fühlt sich oft fremdbestimmt und ausgeliefert. Das wirkt sich auch auf die Partnerschaft aus: Die Rollen verändern sich, Liebe und Sexualität ebenso.

Isabelle Drechsler* traf es völlig unvorbereitet: Sie war erst 23 Jahre alt und plante mit ihrem Mann Heiner*, ein Baby zu bekommen, als bei ihr Multiple Sklerose (MS) ausbrach. Das sei für beide Partner ein Schock gewesen, berichtet der Neurologe Dr. Markus Heibel, Ärztlicher Direktor und Chefarzt an der Neurologischen Spezialklinik für Multiple Sklerose in Hachen im Sauerland: Der Ehemann ist nach der Diagnose in ein genauso tiefes Loch gefallen wie sie selbst. Er hat nicht verstanden, warum sich seine Frau so veränderte. Sie wiederum hatte das Ge-fühl, dass er sich von ihr abwendet. Diesen kritischen Zeitpunkt erleben viele MS-Patienten in einer festen Partnerschaft – denn die neue Situation ist häufig geprägt von Unsicherheit, Rückzug und Minderwertigkeitsgefühlen.

Neue Rollen finden

Die Diagnose ist ein Eingriff in die Partnerschaft, sagt Heibel. Denn sie führe zu einer Veränderung der Rollen, die den Partnern aber selten bewusst sei. Beide stünden vor der Herausforderung, nun andere zu übernehmen. Der Kranke müsse zunächst einmal seine Diagnose erfassen, sie akzeptieren, sich neu orientieren – und dabei lernen, dass die MS nicht das Leben, sondern nur ein Teil des Lebens geworden ist. Der gesunde Partner dagegen müsse sich damit abfinden, dass nun zunächst die Krankheit im Vordergrund stehe und die eigenen Bedürfnisse zurückstehen müssen. Dafür sind soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz erforderlich, sagt Heibel. Einige schaffen das nicht und das kann dann zur Trennung führen. Doch je länger die Partnerschaft schon bestehe, desto wahrscheinlicher sei es, dass sie trotz MS weitergehe.

Unzufrieden im Bett

Manche Lebensgefährten von Patienten schlüpften auch ganz selbstverständlich in die helfende Rolle und nähmen sich zurück, bis die Behandlung und der Umgang mit der Krankheit sich eingespielt hätten. Andere bräuchten dabei Hilfe – so wie es bei Heiner Drechsler der Fall war. Wir haben einige Gespräche geführt, in denen ich ihm erklärt habe, wie viel sich bei seiner Frau körperlich und psychologisch gerade verändert, sagt Heibel. Einige Monate später habe Drechsler es tatsächlich geschafft, sie mit allen Kräften zu unterstützen. Inzwischen haben sie zwei Kinder und wünschen sich noch ein drittes – das zeige, dass es in der Beziehung auch sexuell keine Probleme gebe, sagt der Neurologe. Selbstverständlich ist das keinesfalls: Ungefähr die Hälfte aller MS-Patienten (56 Prozent der Frauen und 50 Prozent der Männer) sind von sexuellen Dysfunktionen betroffen. Sie haben also körperliche Schwierigkeiten beim Sex. 76 Prozent geben an, mit ihrem Sexualleben unzufrieden zu sein.

Hilfe bei Lust- und Potenzverlust

Sexuelle Schwierigkeiten können auf drei verschiedenen Ebenen vorkommen. Bei den primären Störungen handelt es sich um biologische Beeinträchtigungen, die aufgrund der MS auftreten können. Bei Männern sind dies in erster Linie Erektionsstörungen, bei Frauen verminderte Lust sowie keine oder zu geringe Befeuchtung der Scheide. Damit gehen oft auch Orgasmusstörungen einher. Diese Art von Störungen lassen sich häufig gut in den Griff bekommen, sagt Heibel. Ganz wichtig ist dabei: Frauen müssen unbedingt zum Gynäkologen gehen. Es gebe nämlich Behandlungen, die nur in bestimmten Fällen durchgeführt werden können: So sei etwa der Einsatz eines Androgenpflasters zur Lusterhöhung nur dann ratsam, wenn die Frau keine Gebärmutter mehr habe. Männer mit Potenzproblemen sollten sich an ihren Urologen wenden, rät Heibel. Potenzsteigernde Medikamente werden nicht von der Krankenkasse bezahlt, übernommen werden hingegen die Kosten für Vakuumpumpen. Mit ihnen lässt sich ein Unterdruck erzeugen, der Blut in den Schwellkörper fließen lässt. In seltenen Fällen raten die Ärzte zu einer Penisprothese, die operativ eingesetzt wird. Das habe ich in meiner langjährigen Laufbahn aber nur zwei Mal erlebt, berichtet Heibel.

Selbstzweifel als Liebestöter

Sekundäre Störungen werden ebenfalls durch die MS ausgelöst und beeinträchtigen das Sexualleben indirekt. Dabei spielt die Inkontinenz eine große Rolle. Für die Betroffenen ist es sehr unangenehm und beschämend, wenn während des Geschlechtsverkehrs Urin abgeht. Eine einfache und wirkungsvolle Lösung ist hier, direkt vor dem Sex die Blase zu entleeren, rät der Neurologe. Zu Beeinträchtigungen können auch Spastiken oder steife Beine führen – beides lässt sich medikamentös behandeln.

Keine körperlichen Ursachen haben dagegen die tertiären Störungen. Sie sind rein psychisch bedingt und ergeben sich durch ein verändertes Selbstbild, bedingt durch die Krankheit. Häufig handelt es sich um depressive Verstimmungen und um starke Selbstzweifel, die Fragen mit sich bringen wie Bin ich überhaupt noch attraktiv? oder Darf ich weiterhin Lust auf Sex haben?. An dieser Stelle komme die offene Kommunikation ins Spiel, sagt Heibel: Das ist eine Riesenherausforderung. Aber die Partner sollten unbedingt darüber sprechen – am besten einen Psychotherapeuten zu Rate ziehen. Er habe zwei Patienten in Behandlung, die mit ihren Partnern in dieser Situation eine kognitive Verhaltenstherapie von etwa drei Monaten gemacht und damit hervorragende Ergebnisse erzielt hätten.

Offene Gespräche und kreative Lösungen

Das Thema Sexualität sei noch immer schambesetzt und tabuisiert, sagt Markus Heibel – insbesondere, wenn es um Schwierigkeiten gehe. Das versucht er zu ändern: Seit 2010 hält er regelmäßig Vorträge zu Partnerschaft und Sex bei MS und stellt fest, dass seine Patienten nach und nach beginnen, über das Thema zu reden. Gern weist der Neurologe auf Hilfen und Wege hin, die zu einer erfüllten Sexualität führen: Für Singles gibt es Onlineportale wie ›handycap love‹, auf denen sich Menschen mit Einschränkungen gegenseitig finden können, sagt er. Andere Paare hätten ihm begeistert berichtet, dass ihnen erotisches Spielzeug geholfen habe, die Qualität des Liebeslebens zu steigern. nk