Multiple Sklerose: Die Welt ist kopflastiger geworden.

Das Gedächtnis lässt nach? Und immer wieder fehlen die passenden Worte? Was dann zu tun ist, erläutert Professor Pasquale Calabrese, Leiter der Abteilung für Neuropsychologie und Verhaltensneurologie an der Universität Basel.

Herr Professor Calabrese, wenn Patienten über Erinnerungslücken klagen, sprechen Ärzte oft von kognitiven Störungen. Was ist unter dem Begriff genau zu verstehen?

Es geht vor allem um Probleme mit dem Gedächtnis und der Konzentration. Auch die geistige Beweglichkeit ist bei kognitiven Störungen häufig eingeschränkt. Gemeint sind also Teilleistungsstörungen unterschiedlicher Ausprägung und nicht etwa eine Demenz – das ist für Patienten wichtig zu wissen.

Wie viele MS-Erkrankte haben mit kognitiven Störungen zu kämpfen?

In Fachartikeln heißt es oft, bis zu 70 Prozent seien betroffen. Die Zahl geht auf klinische Studien mit sehr strengen Maßstäben zurück. Sie ist aber zu hoch gegriffen, wenn es um den Alltag der Patienten geht: Hier machen sich bei etwa 40 Prozent der MS-Betroffenen geistige Einbußen bemerkbar.

Bei einigen handelt es sich um leichte Beeinträchtigungen, andere fühlen sich stärker gehandicapt. Wenn die Symptome schon im Frühstadium der Multiplen Sklerose auftreten, können sie auf einen schwereren Krankheitsverlauf hindeuten.

Sie behandeln seit mehr als dreißig Jahren MS-Patienten: Können Sie bei den kognitiven Störungen einen Trend erkennen?

Die Patienten klagen heute viel häufiger über solche Beschwerden als früher. Ausschlaggebend ist der moderne Lebensstil. Vor allem die Arbeitswelt ist kopflastiger geworden, die geistige Leistungsfähigkeit zählt inzwischen mehr als die körperliche Kraft. Das hat auch Folgen für die MS-Diagnostik: Während man früher vor allem auf körperliche Symptome achtete, sind heute kognitive Fertigkeiten entscheidend für den Befund.

Wie kommt ein Patient zu einer treffenden Diagnose?

Am Anfang steht das vertrauensvolle Gespräch mit dem Arzt. Er sollte das Thema, über das die meisten Menschen nicht gern reden, von sich aus behutsam ansprechen. Als Nächstes kann ein sogenannter Screening-Test nützlich sein, bei dem unterschiedliche Fragen zu beantworten sind. Häufig angewandt wird der MUSIC-Test, der eigens zur Erfassung kognitiver Beeinträchtigungen bei MS entwickelt wurde. Er dauert nur knapp zehn Minuten, kann in jeder neurologischen Praxis vorgenommen werden und zeigt, ob eine kognitive Störung vorliegt oder nicht. Auch der Schweregrad lässt sich grob bestimmen.

Und wenn man es genauer wissen will?

Dann bietet sich eine ausführliche neuropsychologische Diagnostik in einem MS-Zentrum an. Dort werden mehrstündige Tests gemacht, die eine exakte Charakterisierung der kognitiven Schwächen erlauben. Häufig zeigt sich dabei ein MS-typisches Muster von Symptomen.

Bei welchen Beschwerden sollte man den Arzt aufsuchen?

Grundsätzlich immer dann, wenn die Alltagsaktivitäten beeinträchtigt sind. Wer während der Arbeit oder privat beim Lesen immer wieder zurückblättern muss, weil plötzlich der Zusammenhang fehlt, oder wer beim Gespräch oft den roten Faden verliert, der sollte sich medizinische Hilfe holen.

Was lässt sich gegen kognitive Störungen ausrichten?

Die Wunderpille gibt es leider nicht, aber mit einfachen Maßnahmen kann man oft vieles bessern. Ich schaue mir zunächst alle Medikamente an, die ein Patient einnimmt. Manche Präparate können in ihrer Zusammenwirkung die Kognition ungünstig beeinflussen. Dazu zählen bestimmte Arzneien gegen Blasenfunktionsstörungen und einige Medikamente zur Behandlung spastischer Lähmungen. Da muss man dann im Einzelfall Alternativen finden. Ganz wichtig ist der Lebensstil des Patienten. Zu wenig Bewegung, Schlaf und soziale Kontakte, zu viel Alkohol und Tabakrauchen schaden dem Denkvermögen und fördern zudem ein verwandtes Krankheitsbild, die Fatigue. Da kann man ganz gezielt gegensteuern, etwa mit erprobten Fitnessprogrammen für MS-Patienten.

Was bringt die Zukunft?

Es gibt erste Ansätze, die kognitive Wirkung von MS-Medikamenten stärker zur Nutzenbewertung und Zulassung heranzuziehen – ob sie also die geistige Leistungsfähigkeit mindern oder unbeeinflusst lassen. Ich hoffe, dass dieser Aspekt mehr Gewicht erhält, denn er prägt die Lebensqualität. lb

Prof. Dr. Pasquale Calabrese
Leiter der Abteilung für Neuropsychologie und Verhaltensneurologie an der Universität Basel