Multiple Sklerose: Belasten Sie Ihre Kinder nicht mit Ihren Sorgen

Für Eltern mit MS stellt sich irgendwann die Frage, ob und wie sie mit ihrem Nachwuchs über die Krankheit sprechen sollten. Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff rät im Interview mit NTC Impulse dazu, Kindern nicht mehr Informationen als nötig zuzumuten.

Herr Dr. Winterhoff, wie können Eltern, die an Multipler Sklerose erkrankt sind, am besten mit ihren Kindern darüber reden?

Ich stelle mal die Gegenfrage: Ist es überhaupt notwendig, mit den Kindern darüber zu sprechen? Wenn die MS sichtbar ist oder zu starken Einschränkungen führt, werden Kinder ab vier oder fünf Jahren dies von sich aus ansprechen und ohne Hemmungen Fragen stellen. Dann ist es natürlich wichtig, dass die Eltern hierauf eine Antwort geben, die kindgerecht ist. Sie sollten dann aber nicht versuchen, die Krankheit zu erklären und schon gar nicht über Prognosen oder einen möglichen Verlauf sprechen. Sie können einfach sagen: Ich bin krank, und deswegen kann ich mich beispielsweise nicht mehr so gut bewegen. Erst mit ungefähr 16 Jahren können Kinder wirklich verstehen, was Leben oder gar Lebensbedrohung bedeutet.

Also sollte man, wenn überhaupt, nur diejenigen Einschränkungen thematisieren, die bereits da sind?

Ja. Eltern sollten ihren Kindern nie Fragen beantworten, die sie gar nicht stellen. Damit enthalten sie ihnen nichts vor, sondern gehen kindgerecht mit der Situation um. Entscheidend ist, dass sie sich selbst ausreichend mit ihrer Diagnose auseinandersetzen. Denn das Kind kann nur so gut mit der Krankheit umgehen, wie seine Eltern es können. Das heißt, Erwachsene müssen mit sich und ihrer Erkrankung klarkommen und dürfen ihre Kinder nicht mit eigenen Unsicherheiten oder Ängsten belasten. Wird dies beherzigt und haben die Kinder verlässliche Bezugspersonen, die sich um sie kümmern, können sie mit jeder Situation sehr gut umgehen: Sie haben eine erstaunlich stabile Psyche.

Und wenn die Kinder fragen, was im schlimmsten Fall passieren könnte?

Dann sollten Eltern immer eine sehr vorsichtige Antwort geben und sagen, dass die Ärzte das nicht eindeutig vorhersagen können. Das entspricht ja auch der Wahrheit, denn es ist tatsächlich nie sicher, wie eine Krankheit verläuft – das gilt bei MS, aber auch bei akut lebensbedrohlichen Erkrankungen.

Inwieweit können Eltern mit MS von ihren Kindern Unterstützung erwarten, wenn sie im Alltag Einschränkungen haben?

Im Alltag können und sollten Kinder ganz klar mit eingebunden und gefordert werden, wenn es um praktische Hilfe geht. Es sollte für jedes Kind selbstverständlich sein, altersgerechte Aufgaben zu übernehmen und mitzuhelfen. Das fördert die Selbständigkeit. Anders ist das aber mit psychischer oder pflegerischer Unterstützung: Hierfür sind nicht die Kinder zuständig. Sie sind nicht dafür da, dem kranken Elternteil Trost zu spenden oder für sein Wohlergehen zu sorgen. Ein Kind muss immer Kind sein dürfen und sollte niemals in die Position eines Erwachsenen geraten. Es ist leider ein Problem unserer Gesellschaft, dass wir Kinder oft wie kleine Erwachsene behandeln. Viele Eltern brauchen ihre Kinder zu sehr. Damit werden sie ihnen nicht gerecht. nk

Dr. Michael Winterhoff
hat sich als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn niedergelassen und ist Autor mehrerer Sachbücher zur psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sein aktuelles Buch Die Wiederentdeckung der Kindheit – Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet 17,99 €.