Polyneuropathien: Gegen die Fatigue

Viele Patienten mit entzündlichen Polyneuropathien leiden unter einer starken körperlichen und geistigen Müdigkeit. Was dahinter steckt und was helfen kann, erläutert Professor Helmar C. Lehmann vom Zentrum für Neurologie und Psychiatrie der Uniklinik Köln.

Herr Professor Lehmann, was versteht man unter dem Fatigue-Syndrom?

Fatigue ist französisch und bedeutet so viel wie Müdigkeit und Erschöpfung. Man unterscheidet zwischen kognitiver, also geistiger, und motorischer Fatigue: Betroffene haben das Gefühl, eine Aufgabe rein körperlich nicht mehr bewältigen zu können. Beide Varianten kommen bei neurologischen Erkrankungen sehr häufig vor, so auch bei entzündlichen Polyneuropathien, wie dem Guillain-Barré-Syndrom (GBS) oder der Chronischen Inflammatorischen Demyelinisierenden Polyneuropathie (CIDP).

Zur Definition der Fatigue gehört zudem, dass die extreme Tagesmüdigkeit auch dann anhält, wenn die Betroffenen nachts regelmäßig und ausreichend schlafen. Eine solch starke Erschöpfung wirkt sich meist negativ auf den Alltag aus.

Was sind die Ursachen der Fatigue?

Für die geistige Müdigkeit sind die Gründe bislang noch weitgehend unbekannt. Die körperliche Erschöpfung wird in erster Linie auf die Schädigung der Nerven durch die Polyneuropathie und somit die Unfähigkeit zurückgeführt, eine Muskelkontraktion längere Zeit aufrechtzuhalten. Davon abzugrenzen ist die Tagesmüdigkeit infolge nächtlicher Schlaflosigkeit – sei es aufgrund von Empfindungsstörungen oder Schmerzen.

Was kann man gegen die Symptome tun?

An erster Stelle sollte eine kausale Therapie stehen, also die Behandlung der Grunderkrankung, die zu den Beschwerden führt. Bei den entzündlichen Polyneuropathien zeigen Immunglobuline oder sogenannte immunsuppressive Medikamente wie Kortison eine entsprechend ursächliche Wirkung. Dadurch gehen meist nicht nur Schmerzen und Empfindungsstörungen zurück, sondern erfahrungsgemäß oft auch die Fatigue. Zudem zeigen Untersuchungen, dass vielen Patienten Physiotherapie oder zumindest regelmäßige körperliche Betätigung helfen kann. Belastung und Dauer sollten dem Leistungsvermögen der Patienten entsprechen. Nach und nach kann die Aktivität langsam gesteigert werden. Ebenfalls hilfreich können Yoga oder Entspannungstechniken wie Autogenes Training sein; manchen Patienten hilft auch Akupunktur. Antidepressiva, die bei GBS oder CIDP zur Schmerzbehandlung eingesetzt werden, wirken sich möglicherweise ebenfalls positiv auf den Schlaf aus. Überhaupt ist es ratsam, die eigenen Kräfte gut einzuteilen und Zeitabläufe im beruflichen und privaten Alltag an das persönliche Tempo anzupassen.

Warum ist es wichtig, quälende Müdigkeit und Erschöpfung ernst zu nehmen?

Müdigkeit ist ein sehr subjektives Empfinden und viele Patienten kommen nicht auf die Idee, ihre körperliche und geistige Kraftlosigkeit als Teil ihrer neurologischen Erkrankung zu sehen. Dabei sind die Beschwerden ein häufiges Symptom bei entzündlichen Polyneuropathien. Oftmals ist Fatigue sogar das Initialsymptom, das heißt, sie tritt noch vor anderen Problemen wie Kribbeln oder Taubheit in Armen oder Beinen auf. Hält eine unerklärliche Erschöpfung über längere Zeit an, ohne dass Schlaf und Erholung Besserung bringen, sollte ein Arzt um Rat gefragt werden. ag

Prof. Dr. Helmar C. Lehmann
Zentrum für Neurologie und Psychiatrie, Universitätsklinik Köln