chronisch krank: Oft ist es hilfreich, als schwerbehindert zu gelten

Mit Recht zum Erfolg: Alexander Bredereck, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Potsdam und Berlin, erklärt, welche besonderen Regeln für chronisch kranke und schwerbehinderte Menschen in der Arbeitswelt gelten.

Herr Bredereck, dürfen Arbeitgeber im Bewerbungsgespräch nach chronischen Krankheiten fragen?

Nein, in der Regel dürfen sie das nicht. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Wenn ein Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an der Antwort hat, etwa weil ein Bewerber mit einer bestimmten Erkrankung gar nicht in der Lage wäre, die ihm übertragenen Aufgaben auszuführen, dann darf er eine solche Frage stellen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn ein Bewerber in seinem Job eine gefährliche Maschine bedienen soll, bei der unter Umständen rasches Handeln erforderlich ist, verträgt sich das beispielsweise nicht mit der Einnahme von Medikamenten, die das Reaktionsvermögen einschränken. In einem solchen Fall dürfte der Arbeitgeber also nachfragen, ob der Bewerber gesund ist, da dieser ansonsten sich selbst oder seine Kollegen gefährden könnte. Anders sieht es bei einer Bewerbung um eine Stelle im Büro dieser Firma aus: Hier wäre eine entsprechende Frage unzulässig.

Wie reagiert man als Bewerber, wenn die Frage trotzdem kommt?

Rein rechtlich darf man lügen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Zumindest nachdem man das erste halbe Jahr erfolgreich hinter sich gebracht hat: In Betrieben mit mehr als zehn Mitarbeitern besteht nach sechs Monaten für gesunde wie kranke Menschen Kündigungsschutz. Wenn der Arbeitgeber vorher etwas merkt, hat man leider wenig Chancen, sich gegen eine Kündigung erfolgreich zu wehren. Ob eine Lüge im Bewerbungsgespräch tatsächlich sinnvoll ist, muss aber jeder für sich entscheiden. Es könnte dann zum Beispiel problematisch werden, Vorgesetzte oder auch Kollegen in krankheitsbedingt schwierigen Situationen um Hilfe zu bitten.

Genießen Menschen mit chronischen Erkrankungen besonderen Kündigungsschutz, wenn sie zum Beispiel öfter als ihre Kollegen krankheitsbedingt fehlen?

Nein, zumindest nicht, solange sie keinen Schwerbehindertenausweis besitzen. Bei einer sogenannten negativen Gesundheitsprognose – wenn der Arbeitgeber also davon ausgehen muss, dass es nach einem krankheitsbedingten Ausfall auch künftig zu längeren oder häufigen Fehlzeiten kommen wird – kann eine Kündigung durchaus rechtens sein. Allerdings hat der Arbeitnehmer dann zunächst die Chance, die negative Prognose zu widerlegen. In diesem Fall muss er seine Karten aber offen auf den Tisch legen und erklären, warum er davon ausgeht, künftig seltener zu fehlen. Etwa, weil er eine neue Therapie beginnt oder eine Reha bewilligt bekommen hat. In der Praxis enden übrigens rund 95 Prozent solcher Kündigungsstreitigkeiten nicht mit einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, sondern mit einer Abfindung.

Wie viele Fehltage rechtfertigen eine Kündigung?

Eine starre Regel gibt es hier nicht. Wenn aber beispielsweise ein MS-Patient drei Jahre hintereinander jedes Jahr mehr als sechs Wochen lang krankheitsbedingt ausfällt, darf der Arbeitgeber an eine Kündigung denken. Wenn ein Mensch mit Migräne sechsmal im Jahr für jeweils drei Tage fehlt und dann vielleicht auch noch mal wegen eines grippalen Infekts eine Woche lang ausfällt, kann das ebenfalls bereits ein Kündigungsgrund sein. Patienten, die durch ihre Krankheit wirklich stark beeinträchtigt sind, tun daher gut daran, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen.

Welche Vorteile hat man dadurch?

Zunächst einmal genießen Schwerbehinderte, also Menschen mit einem Behinderungsgrad von mindestens 50, besonderen Kündigungsschutz. Das bedeutet, dass eine Kündigung nur mit Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochen werden kann. Heikel wird es für den Arbeitgeber immer dann, wenn er aufgrund der Krankheit kündigen möchte, die zu der Schwerbehinderung führt. Das gilt als diskriminierend und ist rechtlich unzulässig. Unter Umständen können übrigens auch Menschen mit einem Behinderungsgrad von 30 besonderen Kündigungsschutz erhalten. Dazu müssen sie bei der Bundesagentur für Arbeit eine Gleichstellung beantragen.

Wird dort auch der Antrag auf den Schwerbehindertenausweis gestellt?

Nein, das geschieht bei den Versorgungsämtern oder den zuständigen Landesämtern, die entsprechende Antragsformulare bereithalten. Erforderlich ist in jedem Fall ein entsprechendes ärztliches Attest, das der Haus- oder ein Facharzt ausstellen kann.

Welche weiteren Privilegien ergeben sich durch den Ausweis?

Der Arbeitgeber muss per Gesetz Schwerbehinderte fördern. Ihnen stehen zum Beispiel fünf Tage bezahlter zusätzlicher Urlaub im Jahr zu. Zudem haben sie das Recht, Überstunden zu verweigern. Es muss gewährleistet sein, dass sie an ihrem Arbeitsplatz trotz ihrer Behinderung möglichst effektiv arbeiten können. Somit stünde ihnen beispielsweise, falls ihnen das bei ihrer Arbeit hilft, ein höhenverstellbarer oder fahrbarer Schreibtisch zu. Generell gibt es ein sogenanntes Benachteiligungsverbot. Wenn jemand also nicht gut zu Fuß, der Weg zur Pause aber lang ist, darf der Betroffene längere Pausen einlegen. All diese Vorteile haben Menschen, die – provokant gesagt – nur chronisch krank sind, nicht. Zumindest fehlt ihnen der gesetzliche Anspruch.

Kann es trotzdem sinnvoll sein, eine Schwerbehinderung zu verschweigen?

Arbeitnehmer sind gesetzlich nicht verpflichtet, den Arbeitgeber über ihre Schwerbehinderung zu informieren. Ich würde dennoch den meisten Beschäftigten raten, spätestens nach einem halben Jahr reinen Tisch zu machen – allein wegen der genannten Privilegien. Solange der Arbeitgeber von der Schwerbehinderung nichts weiß, kann sich der Arbeitnehmer nicht auf die sich daraus ergebenden Rechte berufen. Auch wenn jemand wegen seiner Erkrankung im Job zuweilen Fehler macht oder gar von einer Kündigung bedroht ist, ist er besser beraten, den Ausweis vorzulegen. Auf der anderen Seite ist natürlich zu bedenken, dass eine Schwerbehinderung gerade im Berufsleben auch zu einer gewissen Stigmatisierung führen kann. Als gut bezahlte Führungskraft würde ich mir also reiflich überlegen, ob ich meinen Sonderstatus öffentlich mache oder nicht.

Kann der Arbeitgeber von einem Beschäftigen verlangen, wegen Erwerbsunfähigkeit vorzeitig in Rente zu gehen?

Den Antrag auf Erwerbsunfähigkeit stellt immer der Patient selbst. Kein Arbeitgeber kann ihn dazu zwingen. Wenn jemand allerdings seit mehr als einem Jahr krankheitsbedingt ausgefallen ist, gibt es oft keine Alternative mehr dazu.

Wie reagiert man als Arbeitnehmer richtig, wenn man nur bestimmte Aufgaben, etwa Geschäftsreisen, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr wahrnehmen kann? Darf man sie ablehnen?

Das kommt stark auf den Einzelfall an. Liegt ein entsprechendes ärztliches Attest vor, muss man solche Aufgaben natürlich nicht mehr übernehmen. Handelt es sich dabei aber um vertraglich vereinbarte Tätigkeiten, liefert man seinem Arbeitgeber auch auf diese Weise einen Kündigungsgrund. Ich würde einem Klienten, bei dem wirklich absehbar ist, dass sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtern wird, daher immer raten, besser früher als später eine Abfindung anzunehmen. Wenn sich der Arbeitgeber weigert, einer vernünftigen Abfindungslösung zuzustimmen, muss man gegebenenfalls zunächst seine Rechte geltend machen. Direkt auf eine Abfindung klagen kann man meistens nicht. ab

Alexander Bredereck
Fachanwalt für Arbeitsrecht in Potsdam und Berlin