Kopfschmerz: Heimtückische Attacke aus dem Nichts

Clusterkopfschmerz ist eine seltene neurologische Erkrankung. Wegen der Intensität des Schmerzes wird er auch als Selbstmordkopfschmerz bezeichnet. Über die Ursachen ist wenig bekannt. Aber es gibt erprobte Verfahren, den Schmerz zu behandeln.

Im Keller von Markus Wagners Haus im niederrheinischen Brüggen lagern in einem dunklen Wandregal sieben, etwa 40 Zentimeter lange Gasflaschen. Auf dem Boden stehen noch einmal drei metallene Flaschen, jede von ihnen gut einen Meter hoch. Sie enthalten reinen Sauerstoff. Markus Wagner beruhigt der Anblick. Denn er weiß, dass sein Vorrat reicht, um die ersten Schmerzattacken zu bekämpfen. Wenn sie kommen, atmet er den Sauerstoff über eine Gesichtsmaske ein und ist in wenigen Minuten schmerzfrei. Was ihn dagegen beunruhigt: Er weiß nicht genau, wann die Schmerzen wieder auftreten.

Markus Wagner leidet an Clusterkopfschmerz. Diese seltene Form des Kopfschmerzes äußert sich in einseitigen, sehr starken Schmerzanfällen. Das Schmerzzentrum liegt im Bereich hinter den Augen und in der Stirn- und Schläfenregion. Betroffene beschreiben den Schmerz als bohrend oder schneidend – als würde einem jemand mit einer glühend heißen Nadel ins Auge stechen, sagt Wagner. Die Attacken dauern zwischen 15 und 180 Minuten und können mehrmals täglich auftreten. Es gibt zwei Ausprägungen der Erkrankung. Beim episodischen Clusterkopfschmerz, an dem etwa drei Viertel der Betroffenen leiden, wechseln sich schmerzfreie Phasen mit Intervallen ab, in denen es zu regelmäßigen Attacken kommt. Eine Episode kann sich über mehrere Wochen ziehen; danach hat der Patient einige Monate, manchmal sogar Jahre Ruhe. Sind die symptomfreien Phasen kürzer als zwei Wochen oder hält die Schmerzepisode länger als ein Jahr an, spricht man von chronischem Clusterkopfschmerz. Die Attacken treten dann häufig zur gleichen Tages- oder Nachtzeit auf.

Mediziner schätzen, dass in Deutschland zwischen 70.000 und 120.000 Menschen immer wieder unter Clusterkopfschmerz leiden, wobei Männer dreimal häufiger als Frauen betroffen sind. Die genaue Zahl könnte allerdings weitaus höher sein, weil in der Regel mehrere Jahre zwischen den ersten Anzeichen und der exakten Diagnose liegen.

Herkömmliche Schmerzmittel helfen nicht

Bei Markus Wagner waren es mehr als fünf Jahre. Die ersten Attacken stellten sich ein, als ich Ende zwanzig war, erinnert sich der heute 48-Jährige. Sie kamen nachts und waren begleitet von innerer Unruhe. Ich lief im Haus umher oder ging draußen spazieren. Anfangs versuchte er, die Schmerzen mit Aspirin und Paracetamol zu bekämpfen. Nach 15 bis 20 Minuten waren sie dann auch verflogen. Nachdem es jedoch über Wochen immer wieder zu Attacken kam, suchte Wagner seinen Hausarzt auf. Der machte zunächst einen Allergietest. Es schloss sich eine Odyssee durch viele Arztpraxen an: Weil der Schmerz stets hinter dem Auge entstand und während der Anfälle auch die Nase verstopft war, überwies ihn sein Hausarzt zum Augenarzt, danach zum HNO-Arzt und schließlich zum Neurologen, der mittels EEG die Gehirnaktivitäten überprüfte – alle Untersuchungen blieben ohne Befund.

Der lange Leidensweg von Markus Wagner bis zur endgültigen Diagnose ist kein Einzelfall. Er sei sogar eher typisch, sagt Dr. Andreas Peikert und fügt hinzu: Ein Grund dafür ist der Verlauf des Kopfschmerzes. So plötzlich wie er kommt, geht er auch von selbst wieder weg. Viele Betroffene scheuten sich deshalb, zum Arzt zu gehen. Ein weiteres Problem: Manche Ärzte versäumten, die entscheidenden Fragen zu stellen: Tritt der Schmerz meistens nachts auf? Immer zur selben Zeit? Ist er von einer Bewegungsunruhe begleitet, die zum Hin- und Herlaufen zwingt? Tränt das Auge und läuft die Nase? Werden diese Fragen bejaht, ist die Diagnose klar, sagt der Bremer Neurologe.

Ursache unbekannt

Was genau die Schmerzen hervorruft und warum sie so plötzlich wieder aufhören, kann die Medizin noch nicht beantworten. Man weiß nur, dass die Schmerzimpulse im Hypothalamus entstehen. Dieser Teil des Gehirns liegt im Bereich der Sehnervenkreuzung und ist das wichtigste Steuerzentrum des Nervensystems.

Für die Behandlung des Schmerzes gibt es jedoch inzwischen einige sehr wirkungsvolle Verfahren. Als Akuttherapie bei Clusterattacken hat sich die Inhalation von reinem Sauerstoff bewährt. Dabei atmet der Patient über eine geschlossene Mund-Nasen-Maske acht bis zwölf Liter Sauerstoff pro Minute ein. Die Inhalation muss unmittelbar nach Beginn einer Attacke erfolgen. Bei rund 80 Prozent der Patienten führt dies innerhalb von 15 Minuten zu Schmerzfreiheit. Eine ähnlich gute Wirkung zeigen bestimmte Medikamente aus der Gruppe der Triptane, wie Sumatriptan und Zolmitriptan. Sie werden unter die Haut gespritzt oder über ein Nasenspray angewendet.

Zur Prophylaxe, also zur Vorbeugung des Clusterkopfschmerzes, ist Verapamil das Mittel der ersten Wahl. Clusterkopfschmerz kann man sich vorstellen wie einen Vulkan, der plötzlich ausbricht. Verapamil legt sich wie ein Schirm über diesen Vulkan, bis er nicht mehr aktiv ist, beschreibt Andreas Peikert das Wirkungsprinzip. Allerdings muss Verapamil so lange wie nötig in einer festen Dosis genommen werden. Reduzieren die Patienten die Dosis eigenmächtig, kann sich der Schirm lockern und die Attacken kommen wieder durch. Falls nicht, kann Verapamil abgesetzt werden.

Auch Kortison ist wegen seiner entzündungshemmenden Wirkung gut zur Vorbeugung geeignet. Darüber hinaus hat die Medizin in den letzten Jahren Fortschritte bei der Weiterentwicklung sogenannter neuromodulatorischer Behandlungsverfahren gemacht. Als vorbeugende Maßnahme können bestimmte Nervenregionen von außen mit elektrischen Impulsen angeregt werden – etwa mit Geräten, die sich der Patient wie einen Telefonhörer an den Hals hält oder wie einen Kopfhörer ins Ohr steckt.

Schmerzfrei per Fernbedienung

Für Prävention und Akutbehandlung hat sich die Stimulation eines Nervenknotens im Bereich der Wangen etabliert. Dafür ist vorbereitend ein operativer Eingriff nötig, bei dem ein Chip unter der Haut platziert wird. Kommt die Attacke, aktiviert der Betroffene den Chip mit einer Fernbedienung und kann so den Schmerz unterdrücken. Die Neuromodulation wirkt leider nicht bei jedem Patienten gleich gut, schränkt Andreas Peikert ein. Sie kommt auch nur für jene Patienten infrage, bei denen andere Methoden nicht helfen.

Für Markus Wagner stellt sie also keine Alternative zur bisherigen Behandlung dar. Der Textilingenieur lebt inzwischen seit rund 20 Jahren mit Clusterkopfschmerz und hat sich mit der Krankheit arrangiert. Seine letzte Attacke liegt 17 Monate zurück, wie ein Blick in sein Schmerztagebuch verrät. In einer Tabelle hält Wagner für jeden Tag einer Episode akribisch fest, wann eine Attacke beginnt und endet und welche Intensität der Schmerz hat. Der nächste Ausbruch könnte seinen Berechnungen zufolge im August kommen. Markus Wagner ist gerüstet. Der Sauerstoff im Keller steht bereit. tl