Psyche: Besser leben mit Hochsensibilität

Erstaunlich viele Menschen nehmen die Umwelt sehr viel intensiver wahr als andere und haben damit ein ernstes Problem. Studien zufolge betrifft es etwa jeden fünften. Hochsensibilität lässt sich nicht ändern. Man kann aber lernen, besser damit zu leben.

Schon als Teenager merkte Michael Jack, dass er anders tickt als andere. Wenn ich damals mit Freunden in die Disco ging, war das für mich der blanke Horror. Bloß schnell raus hier, dachte ich – nur die Flucht konnte mich retten. Lärm, Stimmengewirr und viele Leute ringsum überfordern den heute 36-Jährigen immer noch. Und zwar so sehr, dass er Herzrasen und starke Kopfschmerzen bekommt. Der Angstzustand kann Tage andauern. Heute weiß er, dass er zu den schätzungsweise 16 Millionen Hochsensiblen in Deutschland gehört, die viel intensiver hören, sehen, riechen und schmecken als andere. Und er hat für sich Wege gefunden, mit seiner Feinfühligkeit zu leben.

Durchlässiger Filter

Hochsensibilität ist keine psychische Störung und erst recht keine Einbildung, wie Betroffenen manchmal unterstellt wird. Psychologen bezeichnen sie als ein besonderes Persönlichkeitsmerkmal, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Unbestritten ist, dass der Wahrnehmungsfilter für Reize, die von den Sinnesorganen ins Nervensystem geleitet werden, bei Hochsensiblen durchlässiger ist als bei Menschen, die ein dickeres Fell haben. Woran das liegt, weiß man nicht. Wahrscheinlich aber ist die Überempfindlichkeit erblich, womöglich kann sie auch durch traumatische Ereignisse ausgelöst werden, wie einige Studien vermuten lassen. Der Startschuss für die wissenschaftliche Erforschung fiel erst in den späten 1990er Jahren und kam von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron. Einer ihrer Fachartikel über hochsensible Personen (HSP) fiel Michael Jack zufällig in die Hände und öffnete ihm die Augen.

Extremer Alltagsstress

Als ich verstanden habe, was mit mir los ist, erzählt Michael Jack, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Endlich musste ich mich nicht mehr verstellen. Vor einigen Jahren gründete der Jurist aus Dortmund den Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität (IFHS), um Wissenslücken schließen zu helfen. Der Verein bringt Erfahrungen und Forschungsergebnisse zusammen, vernetzt Wissenschaftler untereinander und vermittelt wohnortnahe Kontaktstellen an alle, die ebenfalls auffällig intensiv empfinden und mehr darüber erfahren möchten.

Die bisherigen Studien liefern keine Hinweise darauf, dass mehr Frauen als Männer hochsensibel sind. Männer sprechen aber seltener darüber. Vielleicht, weil sie Empfindsamkeit für eine Schwäche halten, vermutet Michael Jack und hält dagegen: Denn gerade weil ich den reizüberfluteten Alltag meistern kann, bin ich tough. Ein weiteres Anzeichen für Hochsensibilität: Betroffene erleben oft extremen Gefühlsstress. Sie lassen sich leicht von der schlechten Stimmung anderer anstecken und leiden darunter. Die Abgrenzung von Fremdemotionen falle schwer, bestätigt Michael Jack.

Gesundheitliche Nachteile

Flimmernde Bildschirme, Körperkontakt mit Fremden in Bus und Bahn, der Geruch von Schweiß oder Parfüm, sogar das Ticken einer Uhr – selbst für Kleinigkeiten haben Hochsensible einen eingebauten Verstärker, der sich oft nicht herunterregeln lässt. Die Folgen: Müdigkeit, Übelkeit, Kopfweh, Angstzustände oder ständige Nervosität. Solche Beschwerden drücken auf die Leistungsfähigkeit. Dazu komme, berichtet Michael Jack, dass sich viele zu Hause verschanzen, um sich vor der allzu fordernden Umwelt zu schützen.

Neue Studie in Arbeit

Doch was genau ist hochsensibel? Das lässt sich schwer sagen, denn eine wissenschaftliche Definition fehlt bisher. Daher können HSP-Tests, wie sie etwa im Internet zu finden sind, auch nur vage Anhaltspunkte liefern. Um zu eindeutigen Aussagen zu kommen, entwickelt die Psychologin Dr. Sandra Konrad derzeit an der Universität der Bundeswehr in Hamburg ein präzises Testverfahren. Damit soll es einmal möglich sein, die Hochsensibilität zuverlässig von Angstpsychosen oder Depressionen abzugrenzen – Erkrankungen, für die es gezielte Therapien gibt.

Selbstmanagement üben

Besser, als sich abzukapseln oder immer Rücksicht zu fordern, ist es, selbst Strategien für ein unbeschwerteres Leben zu finden. Im Prinzip geht das so: Erstens erkennen zu lernen, wie es den Nerven gerade geht, ob eine Situation zumutbar ist, und zweitens zu üben, sich rechtzeitig und sozial verträglich in eine Schutzzone zurückzuziehen. Ziel sei es, nicht die Umwelt und die anderen ändern zu wollen, sondern die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und klar mitzuteilen, sagt Michael Jack. Er nimmt sich immer wieder Zeit, um die guten Seiten ausgeprägter Feinsinnigkeit zu genießen: Musik berührt mich oft sehr stark, so als würde sie extra für mich gespielt. Leichter fällt das Selbstmanagement mit Therapeuten und Coaches, die sich gut mit Hochsensibilität auskennen. Eine Liste mit Experten findet sich zum Beispiel unter in der Rubrik Kontakte vor Ort. kb