Multiple Sklerose: Ich würde auch mit einem Bein noch Kampfsport machen

Kampfsport kann dabei helfen, sich selbst besser kennenzulernen, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse wahrzunehmen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Diese Erfahrung hat Normen Melzer, Kampfsporttrainer mit MS-Diagnose, selbst gemacht – und er gibt sie aus Überzeugung weiter.

Körper und Geist fokussieren, Ruhe, Gelassenheit und Anpassungsfähigkeit zeigen: Diese Fähigkeiten hat Normen Melzer beim Kampfsport trainiert und ausgebaut. Sie kommen ihm nicht nur zugute, weil er inzwischen Vater einer knapp einjährigen Tochter, erfolgreicher Kundenbetreuer im internationalen Vertrieb sowie leidenschaftlicher Kampfsporttrainer ist. Sie haben ihm insbesondere geholfen, seit er vor sechseinhalb Jahren die Diagnose MS erhielt. Zu diesem Zeitpunkt war er gerade einmal 32 Jahre alt. Nach der Diagnose ist für mich erst einmal eine Welt zusammengebrochen, erzählt Melzer. Ich war wütend, verstört und habe mich gefragt, ob mein Leben überhaupt noch lebenswert ist. Melzer hatte schon geraume Zeit nach dem Kampfsport-Konzept Jeet Kune Do von Bruce Lee (s. Kasten) trainiert. Dennoch sollte es noch drei Jahre dauern, bis er seine Krankheit akzeptieren konnte.

Kein Typ zum Aufgeben

Den Umschwung bewirkte sein eigener Kampfsporttrainer, der selbst einige Jahre zuvor mehrere Schlaganfälle erlitten und sich wieder in den Sport zurückgekämpft hatte. Er sagte mir: ›Wenn du dich weiterhin abschottest und deine Krankheit ignorierst, statt dich mit ihr auseinanderzusetzen, gibst du auf. Du bist aber nicht jemand, der aufgibt!‹ Damit hat er mich erreicht, das war der Wendepunkt. Melzer begann, sich zu informieren, las Forschungsliteratur und suchte sich einen erfahrenen Neurologen, der auf MS spezialisiert ist. Es war wie beim Kampfsporttraining: Ich ließ mich endlich richtig ein – und erst das gab mir die Möglichkeit, erfolgreich zu kämpfen. Er nahm Medikamente, die ihm halfen – insbesondere aber lernte er zu akzeptieren, dass die Krankheit ein Teil von ihm ist. Der Kampfsport spielte bei alldem eine wichtige Rolle: Das Training gibt mir starken Halt. Es führt mir vor Augen, dass ich vieles selbst in der Hand habe: Ich bin in der Lage, Kontrolle über meinen Körper und meinen Geist zu erlangen. Vor allem aber lerne ich, auf meinen Körper zu hören – wenn er müde ist, aber auch wenn er Bewegung braucht.

Melzer praktiziert und lehrt in seinem eigenen Tempo. Dabei kommen Hände, Arme und Beine in schnellen oder langsamen Bewegungen zum Einsatz, gelegentlich auch Waffen wie Schlagstöcke oder stumpfe Messer. Man benötigt ein hohes Maß an Konzentration, Disziplin und Ausdauer, um die eigenen Stärken zu erkennen und den eigenen Weg zu finden, sagt er. Die Selbstentwicklung stehe im Vordergrund – und die kann einem niemand abnehmen.

Auch im Rollstuhl stark

Wichtig sind Melzer die Werte, die dem Konzept zugrunde liegen: Respekt, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit spielen eine große Rolle. Rücksichtsloser Kampf hat hier keinen Platz, es geht vielmehr darum, sich effektiv zu behaupten und gleichzeitig andere anzuerkennen. Zwar sei jeder Mensch anders, doch das Training lasse sich an fast alle Gegebenheiten anpassen: Es gibt immer Mittel und Wege, Lösungen zu finden. Ich habe zum Beispiel auch schon einen Rollstuhlfahrer trainiert, der dank seiner Willensstärke sogar Paratriathlet geworden ist. Ich habe das Training auf seine Voraussetzungen zugeschnitten und das hat wunderbar funktioniert. Das sei ein Beispiel für die Bedeutung von Willenskraft und mentaler Stärke – sie seien oft wichtiger als die körperlichen Voraussetzungen.

Schritt für Schritt zum Erfolg

Normen Melzer ist nach seiner Diagnose bald wieder ins Training eingestiegen. Auch wenn es anfangs nur langsam ging, hat es mir unheimlich gut getan zu merken, dass ich Sport machen und mich steigern kann, erzählt der heute 38-Jährige. Dabei hat er bis heute das Glück, dass die MS-Schübe seine Trainingsmöglichkeiten nicht wesentlich beeinträchtigen. Aber ich weiß auch: Je schneller man die ersten kleinen Schritte wagt, desto schneller kommt man ans Ziel. Und zwar ganz egal, wie klein die Schritte sind. Deshalb werde ich niemals aufgeben. Ich würde auch noch mit einem Arm und einem Bein weiter Kampfsport machen, sagt er. Vor zwei Jahren hat er die Trainerlizenz erworben und leitet selbst Kampfsportgruppen an.

MS-Patienten helfen

Als zertifizierter Jeet Kune Do-Trainer nimmt Melzer regelmäßig an Fortbildungen in der ganzen Welt teil. In Zukunft möchte er seinen Kampfsport vermehrt auch anderen MS-Patienten nahebringen: Es ist so schön und hilfreich, Beweglichkeit, Balance, Regeneration, Entspannung und Atemübungen zu kombinieren und zu erfahren, wie viel dies bewirken kann. nk