chronisch krank: Fünf Milliliter Hoffnung

Seit Kurzem gibt es für Patienten mit Spinaler Muskelatrophie erstmals ein Medikament. Die Effekte sind je nach Schwere der Erkrankung und Zeitpunkt des Therapiebegins unterschiedlich. Doch selbst kleine Verbesserungen sind für viele Erkrankte von größter Bedeutung. Matthias Küffner nimmt das Mittel seit Anfang des Jahres. Inzwischen kann der 45-Jährige seine Finger wieder mehrere Millimeter bewegen.

Als die Ärzte bei Matthias Küffner eine Spinale Muskelatrophie (SMA) vom Typ Werdnig-Hoffmann feststellten, war er gerade einmal sechs Monate alt. Die Mediziner prophezeiten den geschockten Eltern, dass ihr Kind wohl nicht älter als fünf, vielleicht sechs Jahre werden würde. Spätestens dann sei der Junge aufgrund von Lähmungen, die auch die Atemmuskulatur erfassen würden, vermutlich nicht mehr lebensfähig.

In diesem Punkt zumindest irrten die Ärzte. Matthias Küffner ist heute 45 Jahre alt und hat trotz schwerster körperlicher Behinderungen seine Lust am Leben in keiner Weise verloren. Er liebt seine Familie, Freunde und Tiere, spielt Schach, geht gerne essen, betreibt Geocaching, eine Art Schnitzeljagd per GPS, besucht Märkte und Konzerte und bereist fremde Städte und Länder. Beruflich arbeitet er für eine Firma, die elektronische Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen entwickelt. Und nicht zuletzt engagiert er sich seit vielen Jahren im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke für andere Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen.

Unterstützt wird er bei all seinen Aktivitäten von einer Vielzahl technischer Hilfsmittel sowie von einem mehrköpfigen Team aus gelernten und ungelernten Pflegekräften, die rund um die Uhr für ihn da sind. Meine persönlichen Assistenten helfen mir, ein sehr selbstbestimmtes Leben zu führen, sagt Küffner. Denn Hilfe braucht er bei fast allen Tätigkeiten des täglichen Lebens. Mein Motto lautet trotz oder vielleicht auch gerade wegen meiner Krankheit stets, meine Träume zu entdecken und alles daran zu setzen, sie zu verwirklichen, sagt er. Ohne Träume gibt es keine Hoffnung.

Die Hoffnung nicht zu verlieren, war gerade für Patienten mit SMA lange Zeit sehr schwer. Bis vor Kurzem gab es kein Medikament, das ihre schwere Erkrankung hätte aufhalten können. Erst im Sommer des vergangenen Jahres kam erstmals ein Mittel gegen SMA auf den Markt. Nusinersen heißt es und wird den Patienten direkt in den Rückenmarkskanal injiziert, wo es das Absterben der Motoneuronen – also Nervenzellen, die Signale des Gehirns an die Muskeln weiterleiten – verhindern soll.

Erfolge nach zehn Wochen

Noch im Herbst 2017 entschied sich Küffner dafür, eine Therapie mit dem Medikament, über dessen langfristige Wirkungen gerade bei erwachsenen Patienten noch wenig bekannt ist, zu wagen. Am 17. Januar 2018 war es soweit. In der Nacht vor meiner ersten Injektion bin ich kaum zur Ruhe gekommen, erinnert sich Küffner. Meine Bedenken und die Gedanken daran, was auf mich zukommen würde, waren einfach stärker als mein Schlaf.

Schließlich sollte für die Verabreichung des Medikaments eine acht Zentimeter lange Nadel in den Rückenmarkskanal seiner Lendenwirbelsäule gestochen werden – und das im CT und unter künstlicher Beatmung. Um 14.24 Uhr, auch das weiß Küffner noch genau, war es geschafft: Die Ärzte hatten fünf Milliliter seines Nervenwassers gegen die gleiche Menge der rund 100.000 Euro teuren Medikamentenlösung ausgetauscht.

Bereits zehn Wochen nach der ersten Behandlung spürte ich eine deutliche Verbesserung, berichtet Küffner. Einige Finger der linken Hand konnten sich auf einmal wieder um deutlich mehr als einen Zentimeter bewegen. Zudem sei auch eine leichte Streckung der Finger möglich geworden. Und vor allem sein wichtigster Finger, der rechte Zeigefinger, den er zum Steuern des Rollstuhls und des Computers benötigt, fängt wieder an, sich zu bewegen. Dadurch kann ich meinen Rollstuhl viel besser bedienen und habe mehr Kraft für die Ausübung meines Berufs, sagt er.

Freude auf die sechste Gabe

Auch beim Schlucken und Balancieren seines Kopfs seien Besserungen spürbar. Und in der Badewanne ist es mir sogar möglich, meine Schultern etwas zu bewegen.

Im Juli hat er die fünfte Gabe des Medikaments erhalten. Und ich freue sich schon jetzt, sagt er, auf die Nummer sechs im November.

Starthilfe für ein defektes Gen

Im Sommer 2017 wurde in Europa erstmals ein Medikament gegen die Spinale Muskelatrophie (SMA) zugelassen. Bei Patienten mit dieser Erkrankung ist das SMN1-Gen fehlerhaft – während das SMN2-Gen auch bei ihnen geringe Mengen des Proteins SMN herstellt, das für die Funktion der motorischen Nervenzellen unabdingbar ist.

Der Wirkstoff Nusinersen ist eine künstlich hergestellte Nukleinsäure, die nachgeschaltete Prozesse des SMN2-Gens so verändert, dass es quasi wie ein SMN1-Gen funktioniert. Dadurch produziert die Erbanlage größere Mengen SMN, wodurch die Konzentration des Proteins im Zentralnervensystem und im peripheren Nervengewebe steigt. Auf diese Weise kann das Fortschreiten der Erkrankung aufgehalten werden. Oft kommt es sogar zu einer leichten Besserung der Symptome, insbesondere wenn der Wirkstoff in einer frühen Phase der Erkrankung verabreicht wird. Das Erbgut wird durch den Genmodulator nicht verändert.

Eine Studie an 121 Kleinkindern mit einer besonders schweren Form der SMA war bereits im Sommer 2016 aufgrund der guten Ergebnisse vorzeitig abgebrochen worden. 51 Prozent der Kinder, denen Nusinersen verabreicht worden war, hatten auf den Wirkstoff angesprochen. 22 Prozent der Patienten gewannen volle Kontrolle über ihre Kopfmotorik, acht Prozent konnten ohne Hilfe sitzen und ein Kind konnte mit Unterstützung sogar stehen. Gleichzeitig sank das Risiko, dass die Kinder dauerhaft beatmet werden mussten oder gar starben, um 47 Prozent.

Nusinersen wird im ersten Behandlungsjahr sechs Mal injiziert, zunächst in zunehmend größeren Zeitabständen, ab der fünften Dosis dann im Abstand von vier Monaten. Auch in den Folgejahren ist alle vier Monate eine weitere Gabe von fünf Millilitern des Wirkstoffs erforderlich. Die Therapiekosten liegen im ersten Jahr bei rund 600.000 Euro, in den Folgejahren bei jährlich 300.000 Euro. Die Behandlung wird von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt.