Psyche: Wenn die Seele aus dem Lot ist
Eine psychische Erkrankung kann jeden Menschen treffen. Die Symptome sind uns dennoch oft sehr fremd – und daher vielfach beängstigend. Aber es gibt Wege, um seelische Nöte zu lindern und aus der Krise wieder herauszufinden. Manchmal reichen dazu bereits die eigenen Kräfte und die Unterstützung von vertrauten Personen aus. Wenn nicht, sollte sich niemand scheuen, auch professionelle Hilfe zu suchen.
Manche Tage sind einfach nur grau. Da möchte man sich am liebsten schon morgens unter der Decke verkriechen – so groß oder unschön scheinen die Aufgaben zu sein, die einen in den kommenden Stunden erwarten.
Solche Tage sind normal, jeder Mensch kennt sie. Doch was, wenn sie zur Normalität werden? Wo liegt die Grenze zwischen einer schlechten Phase und einem psychischen Leiden, etwa einer Depression oder Angststörung? Und wann ist sie eindeutig überschritten?
Niemand steht alleine da
»Eine starre Grenze gibt es nicht«, sagt Professor Arno Deister, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). »Wenn die Symptome allerdings losgelöst von äußeren Faktoren auftreten, ist dies ein ziemlich sicheres Zeichen für eine psychische Erkrankung«, ergänzt der Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Klinikum Itzehoe.
Anders ausgedrückt: Widerfährt einem im Leben etwas Schlimmes, ist es normal, sich eine Zeit lang deprimiert zu fühlen. Lässt sich jedoch kein Anlass für anhaltende Trübsal erkennen, ist eine Depression, also eine Erkrankung, wahrscheinlich.
Das gilt übrigens auch für Menschen mit chronischen und möglicherweise fortschreitenden neurologischen Leiden. »Psychisch gesunden Patienten gelingt es in aller Regel, die eigenen Ressourcen zu nutzen«, sagt Deister. »Wer die ihm verbliebenen Möglichkeiten aber gar nicht mehr sieht und nur noch hoffnungslos in die Zukunft schaut, der hat ein psychisches Leiden entwickelt.«
Ganz Ähnliches gilt für Angsterkrankungen. »Sich vor neuen Aufgaben oder wirklich gefährlichen Situationen ein wenig zu fürchten, ist gesund«, sagt Deister. »Wer das Haus aber nicht mehr verlassen will aus Angst, da draußen könnte ihm etwas passieren, hat die Grenze zur Erkrankung ganz klar überschritten.«
Ein Grund, sich zu schämen oder gar noch weiter zu verstecken, ist das aber nicht. Mit einem seelischen Leiden steht niemand alleine da. Laut Zahlen der DGPPN entwickelt im Zeitraum eines Jahres nahezu jeder vierte Erwachsene hierzulande die Kriterien einer voll ausgeprägten psychischen Erkrankung. Viele der Patienten werden natürlich auch wieder gesund. Insgesamt leben in Deutschland zurzeit rund 18 Millionen seelisch erkrankte Menschen.
Keiner muss sich schuldig fühlen
Zu den häufigsten Krankheitsbildern gehören Angststörungen, Depres-sionen und Suchterkrankungen. Während Frauen häufiger eines der beiden erstgenannten Leiden entwickeln, greifen Männer eher vermehrt zu Alkoholika und Medikamenten. »Niemand muss sich deswegen aber schuldig fühlen«, sagt Deister.
Immerhin vier von zehn Menschen machen irgendwann in ihrem Leben einmal eine psychische Erkrankung durch. Damit gehören seelische Probleme zu den häufigsten Krankheiten überhaupt, die im Prinzip jeden treffen können. Fast jeder zweite Mensch, der vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheidet, tut dies aufgrund einer psychischen Störung.
Es ist jedoch nicht so, dass heutzutage mehr Menschen seelische Leiden entwickeln als früher. »Psychische Erkrankungen waren schon immer verbreitet«, betont Deister. Inzwischen seien die Betroffenen aber glücklicherweise eher bereit, über ihre Probleme zu sprechen und sich Hilfe zu suchen. »Auch die Ärzte erkennen Krankheiten der Seele heute besser als noch vor einigen Jahrzenten«, sagt der DGPPN-Präsident.
Nein sagen tut manchmal Not
Trotz vieler Fortschritte lassen länger anhaltende seelische Krisen die meisten Betroffenen – und auch deren Umfeld – zunächst oft ziemlich rat- und hilfos zurück. Die körperliche Gesundheit glaubt man einigermaßen im Griff zu haben. Man kann Sport treiben, sich gesund ernähren und bei einer Erkältung weiß eigentlich jeder, was zu tun ist. Doch was braucht die Seele, um gesund zu bleiben? Viele Menschen haben davon nur sehr vage Vorstellungen.
Mediziner und Psychologen haben auf diese Frage inzwischen eine Reihe guter Antworten gefunden. Wie psychische Erkrankungen entstehen und warum manche Menschen besser vor ihnen geschützt sind als andere, erforschen sie seit vielen Jahren intensiv. Und eigentlich klingt die Antwort zunächst ganz banal: »Seelische Probleme entstehen immer dann, wenn die belastenden Faktoren im Leben stärker werden als die schützenden Faktoren«, sagt Deister.
Zu Ersteren gehören beispielsweise andauernder Stress oder traumatische Erlebnisse, etwa der Verlust eines geliebten Menschen oder des Arbeitsplatzes oder auch die Diagnose einer unheilbaren Erkrankung. Daneben spielen erbliche Komponenten eine Rolle. Ist beispielsweise ein Elternteil psychisch erkrankt, ist auch das eigene Risiko in der Regel erhöht. Bei jeder psychischen Störung geraten biochemische Stoffwechselwege im Gehirn aus dem Gleichgewicht. Wie leicht das geschieht, hängt auch von den Genen ab.
Schützende Faktoren sind bestimmte Fähigkeiten, die oft in der angeborenen Persönlichkeit eines Menschen verankert sind, zu einem Großteil aber auch noch im Erwachsenenalter erlernt werden können. Gemeint ist beispielsweise die Fähigkeit, mit Erwartungen und Anforderungen gut umzugehen – diese also, wenn nötig, auch einmal herunterzuschrauben oder zurückzuweisen. Auch Menschen, denen es leicht fällt, Hilfe und Unterstützung anzunehmen oder mit anderen konstruktiv zu kommunizieren, sind psychisch meist ziemlich stabil.
Eigene Bedürfnisse erspüren
Gerade in Zeiten seelischer Nöte ist es wichtig, den schützenden Faktoren im eigenen Leben besonders viel Raum zu geben. »Dazu ist es zuallererst erforderlich, genau in sich hineinzuhorchen, um die eigenen Bedürfnisse zu erspüren«, sagt Deister. Denn diese seien sehr individuell.
Manche Menschen genießen es zum Beispiel, gebraucht zu werden. Sie wünschen sich mehr Aufgaben, mehr Verantwortung und verzweifeln leicht an der vermeintlichen Leere ihres Daseins. Andere fühlen sich von den vielen Dingen, die Tag für Tag an sie herangetragen werden, schnell überfordert und sehnen sich vor allem nach Entlastung. Die einen brauchen möglichst viele Menschen um sich herum, damit es ihnen gut geht. Andere benötigen vor allem Stille und Zeit für sich selbst.
Grenzen erkennen
»In fast jeder Psychotherapie geht es daher ganz wesentlich darum, die eigenen Bedürfnisse und auch die persönlichen Grenzen zu erkennen«, sagt Deister. Doch nicht immer ist dafür gleich eine mehrwöchige Behandlung beim Therapeuten erforderlich. Oft reicht schon ein Abend zum Nachdenken oder ein Gespräch mit einem guten Freund oder einer guten Freundin aus, um zu erkennen, was der Seele gerade fehlt und wie man ihr zu neuen Kräften verhelfen kann.
»Entscheidend ist, dass man seinen ganz persönlichen Weg zu einer gesunden Psyche findet«, sagt Deister. Eine starke Seele braucht ein gutes Gleichgewicht aus Be- und Entlastung. Wo dieses Gleichgewicht liegt, muss jeder Mensch für sich selbst entdecken. Dabei Hilfe, auch ärztliche und psychologische Unterstützung, in Anspruch zu nehmen, ist ausdrücklich erlaubt. ab