Psyche: Meine Depression hat mich voran gebracht

Psychisch Kranke sind oft mit tiefsitzenden Vorurteilen konfrontiert: faul, gemeingefährlich, unzurechnungsfähig sind typische Assoziationen ihrer Mitmenschen. Der Verein „Mutmachleute“ will das ändern: mit Aufklärung und Portraits, die Betroffene und ihre Angehörigen ermutigen sollen.

Ach, stell dich nicht so an! Trink ein Bier und geh mit deiner Frau ins Bett, dann wird das schon wieder! Werner Niebels Kollegen lachen. Er hatte seinen Mut zusammengenommen und von seiner Depression erzählt. Doch der gelernte Landwirt erntet nur Beleidigungen und angeblich gut gemeinte Ratschläge. Auch seine Familie enttäuscht ihn: Auf einer Feier vertraut er den Verwandten an, dass er sich in einer Tagesklinik helfen lassen will. Die Antwort kommt prompt: Was, du willst zu den Bekloppten gehen und Bildchen malen?

Vorurteile und Abwertungen statt Verständnis und Unterstützung: Wer eine psychische Krankheit hat, muss nicht nur lernen, mit der Diagnose umzugehen, sondern auch mit Stigmatisierungen im sozialen Umfeld. Solche Reaktionen rühren in den meisten Fällen daher, dass die Nicht-Betroffenen zu wenig über die Krankheit wissen – davon ist Tina Meffert überzeugt. Deshalb hat die 43-jährige Grafikerin aus Starnberg gemeinsam mit der Verlegerin Anna Starks-Sture die „Mutmachleute“ ins Leben gerufen: eine Initiative, die sich für Entstigmatisierung psy-chischer Krankheiten einsetzt. Es sei wichtig, die Fixierung auf die Schattenseiten zu überwinden, wie sie in fast allen Bücher und Informationsschriften vorherrsche. Tina Meffert: Wir hatten genug von der negativen Sicht und wollten die Menschen mit ihren positiven Seiten in den Mittelpunkt stellen.

Einen Nerv getroffen

Die zweifache Mutter ist selbst betroffen. Sie hat eine diagnostizierte bipolare Störung sowie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, ist aber inzwischen weitgehend stabil. Aus ihrem ursprünglichen Plan, ein Buch zu schreiben, wurde bald ein Konzept für ein Internetportal, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Die Idee: Psychisch Kranke zu ermutigen, ihr Gesicht zu zeigen und mittels eines Fragebogens von ihren Erfahrungen zu berichten.

Seit Anfang des Jahres ist das Portal online. Es sei eingeschlagen wie eine Bombe, sagt Meffert: Wir haben offensichtlich einen Nerv getroffen. Immer mehr Menschen meldeten sich, um „Mutmacher“ zu werden und ihre Geschichte zu erzählen. Inzwischen sind schon mehr als achtzig Porträts von Betroffenen online – von der 22-jährigen Bloggerin mit Schizophrenie und Depressionen, die von der Kraft der Kunsttherapie berichtet über die 54-jährige abstinente Alkoholikerin mit bipolarer Störung bis zum 57-jährigen Werner Niebel, der neben seinen Depressionsschüben auch eine Angst- und Anpassungsstörung zu bewältigen hatte.

Hinter der Maske

Angefangen hatte für Niebel alles mit einer Hautkrebs-Diagnose im Jahr 2006: Sie war der Auslöser für seine erste Depression. Ich habe mich immer mehr zurückgezogen. Ich hatte keine Hoffnung und keinen Lebensmut mehr, sagt er. Er suchte Halt in der Gothic-Szene, entwickelte starke Todessehnsüchte. Über seine Depression und darüber, wie sehr sie ihn belastete, sprach er damals nicht: Ich hatte im Alltag immer eine Maske auf, weil ich mich so geschämt habe. Irgendwann habe ich das nicht mehr ausgehalten.

Die Vorurteile seiner Kollegen und Familienmitglieder belasteten ihn so sehr, dass er 2013 beschloss, in die Offensive zu gehen. Er war bereits seit 2007 in einer Selbsthilfegruppe – sechs Jahre später schlugen ihn die Mitglieder als neuen Gruppensprecher vor. Das Vertrauen der Gruppe hat mich ermutigt, sagt Niebel. Es war an der Zeit, mich öffentlich zu äußern.

Nähe ohne Worte

Seitdem leitet er die Selbsthilfegruppe „Angst, Panik, Depression“ in Reichelsheim im Odenwald. Mein Leben hat sich völlig verändert. Es dreht sich jetzt um die seelische Gesundheit. Ich möchte die Öffentlichkeit informieren und Betroffenen Mut machen. Werner Niebel begann, regelmäßig Kolumnen für die Wochenzeitung Odenwälder Journal zu schreiben und richtete sich beruflich völlig neu aus: Er ließ sich zum Genesungsbegleiter beim Verein EX-IN zertifizieren. Diese Ausbildung ermöglicht es Menschen mit Psychiatrieerfahrung, als sogenannter Erfahrungsexperte andere Betroffene zu beraten. Seitdem arbeitet er als Fachkraft im sozial-pädagogischen Dienst im Betreuten Wohnen beim Diakonischen Werk Odenwald. Seine zweite Frau Gudrun, die er 2007 während seiner schweren Depression kennengelernt hatte, ist für ihn eine starke Stütze: Ihre Nähe ist wichtig für mich. Sie versteht mich, ohne lange nachzufragen.

Verwandte und Freunde seien entscheidend für die Krankheitsbewältigung, betont Tina Meffert: Deshalb haben wir auf unserem Portal neben den Rubriken für Betroffene und Experten auch eine Rubrik für Angehörige eingerichtet. Sie sind ein wichtiger Anker für Erkrankte und gleichzeitig ihr bestes Frühwarnsystem, wenn Symptome wiederkehren oder stärker werden.

Auch mal Grenzen setzen

Angehörige sollten aber auch lernen, gut für sich selbst zu sorgen, sagt Gudrun, Werner Niebels Frau: Ich habe gelernt, Grenzen zu setzen, wenn es mir zu viel wird. Werner ist ein sehr engagierter Mensch, der viel arbeitet und über manche Dinge ewig reden könnte. Wenn ich dann meine Ruhe brauche, sage ich ihm das deutlich. Werner Niebels Depression ist inzwischen geheilt – ebenso wie auch der Krebs –, er leidet aber immer wieder unter starken Stimmungsschwankungen. Wir versuchen immer, zunächst miteinander zu reden. Wenn das nicht möglich ist und Werner sehr gereizt reagiert, hilft es mir zum Beispiel, im Garten Holz zu hacken oder mit einer Freundin zu telefonieren. Zudem hat sie eine Angehörigen-Selbsthilfegruppe gegründet.

Andere ermutigen

Die Erkrankung habe sie zusammengeschweißt, berichten die Eheleute unabhängig voneinander. Wir verbringen so viel Zeit wie möglich zusammen, sagt Werner Niebel: Wir gehen wandern, besuchen Rockkonzerte und Kabarettvorstellungen. Sein Fazit: So schwer meine Depression auch war: Ich habe durch sie mehr gewonnen als verloren. Diese Erfahrung in die Öffentlichkeit zu tragen und „Mutmacher“ für andere zu sein, ist seine Berufung geworden.

Seit diesem August sind die „Mutmachleute“ ein eingetragener ehrenamtlicher Verein mit konkreten Zukunftsplänen: Das Portal soll zweisprachig werden, um in Englisch weltweite Aufmerksamkeit zu gewinnen. Zudem ist eine Kooperation mit dem öffentlichen Fernsehen geplant, um Aufklärungsfilme zu drehen. Tina Meffert: Unser Projekt hat gerade erst begonnen. Es ist noch viel zu tun. nk