Multiple Sklerose: Glück aus eigener Herstellung

Regine Mispelkamp hat seit 17 Jahren Multiple Sklerose. Vor Kurzem konnte sie mit ihrem Pferd Look at me now einen ihrer sportlichen Höhepunkte feiern: Sie errang die Bronzemedaille bei den Weltmeisterschaften der Para-Dressurreiter in Tryon an der amerikanischen Ostküste.

Im Herbst 2017 sah es für die Pferdewirtschaftsmeisterin Regine Mispelkamp nach einem schwierigen Start in die nächste Turniersaison aus. Im Training mit ihrem Rheinländer Wallach Look at me now traten heftige linksseitige Sensibilitätsstörungen auf. Weil sich die Symptome nicht mehr verbergen ließen, vertraute sich die heute 47-Jährige ihrer Trainerin an und erzählte das erste Mal jemandem außerhalb ihrer Familie von ihrer Krankheit.

Die Diagnose schubförmige Multiple Sklerose hatte sie bereits mit Anfang Dreißig erhalten. Wegen Missempfindungen im linken Bein war die junge Frau aus dem niederrheinischen Gel-dern damals zu einem Orthopäden gegangen. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass ihre Beschwerden nicht, wie zunächst gedacht, mit einem Bandscheibenvorfall zusammenhingen. MRT-Bilder zeigten fokale Läsionen im Rückenmark und eine weitere Untersuchung im Krankenhaus bestätigte, dass sie an der unheilbaren Nervenkrankheit MS litt.

Bis an die eigene Grenze

»Für mich war die Diagnose ein absoluter Schock. Ich hatte große Angst, den Pferdesport, der schon damals für mich Leidenschaft und Beruf war, eines Tages nicht mehr ausüben zu können«, berichtet Regine Mispelkamp, die seit 24 Jahren einen eigenen Turnier- und Ausbildungsstall betreibt. Aus Angst, Kunden zu verlieren – sie hätten ihr womöglich das intensive Training mit dem Pferd nicht mehr zugetraut – hatte sie ihre Erkrankung nie öffentlich gemacht. Ohnehin wollte sie die MS nicht wirklich wahrhaben und schob daher alles, was damit zusammenhing, so weit wie möglich von sich weg. »Ich war schon immer der Typ Mensch, der bis an seine Grenzen geht und Schwächen nur ungerne zulässt.«

Seit diesem Jahr bekennt die Sportlerin sich auch vor anderen zu Ihrer Krankheit – weil das Verstecken der Symptome sie zu sehr anstrengt und auch weil sie inzwischen gelernt hat, mit der MS zu leben. Den intensiven Reitsport betrachtet sie schon seit Jahren als Therapie, die den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst. »Wenn ich auf dem Pferd sitze«, sagt Mispelkamp, »gibt mir das unglaublich viel Energie.«

Auf die Idee, sich beim deutschen Para-Dressurteam zu bewerben, kam die Trainerin von Regine Mispelkamp. Anfang 2018 ritt sie einem Komitee, bestehend aus Vertretern des Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten (DKThR) und der Deutschen Reiter-lichen Vereinigung, auf ihrem Pferd vor und absolvierte anschließend die nationale und internationale Sportuntersuchung. Sie wurde in Grade V eingestuft, in dem Reiter mit Behinderungen in maximal zwei Gliedmaßen oder Einschränkungen der Sehfähigkeit starten.

Für Equipechefin Britta Bando war Mispelkamp ein Glücksgriff: Die MS-Patientin, die aus einer pferdebegeisterten Familie stammt und in ihrer Jugend von namhaften Reitern wie Paul Schockemöhle und Ludger Beerbaum trainiert wurde, war bereits im Regelsport sehr erfolgreich gewesen. In der Dressur hatte sie zahlreiche Platzierungen und Siege bis zum Grand Prix errungen, im Springen war sie bis zur Schweren Klasse gekommen.

Auf Anhieb erfolgreich

Schon bei ihrem Para-Debüt beim internationalen Mannheimer Mai-markt-Turnier im Mai sicherte sich die zierliche Sportlerin mit ihrem 13-jäh-rigen Wallach drei Siege und zwei zweite Plätze im Grade V. Und mit einem ersten Platz in ihrem Grade bei den Deutschen Meisterschaften Para Equestrian Dressage im brandenburgischen Werder qualifizierte sie sich für die Weltmeisterschaften der Para-Reiter in Tryon, North Carolina (USA).

Dort ritt Regine Mispelkamp mit Look at me now dann in der Einzelwertung auf den Bronzeplatz. Gemeinsam mit den Mannschaftskollegen holte sie zudem den dritten Platz in der Teamwertung und damit die Qualifikation für die Paralympics 2020. »Für mich ist in Tryon ein Traum in Erfüllung gegangen«, sagt Mispelkamp. »Ich habe meine Ziele konsequent verfolgt und es gewagt, mich zu meiner Krankheit zu bekennen – das hat zum Erfolg geführt. Ohne die unglaubliche Unterstützung meiner Trainer, meines gesamten Teams sowie meiner Familie und Freunde wäre das alles nicht mög-lich gewesen.«

Achterbahn der Gefühle

Dabei war es für die Pferdewirtschaftsmeisterin anfangs nicht einfach, neben dem Regel- auch im Para-Sport zu starten. Bei ihrem ersten Turnier schämte sie sich völlig grundlos, als sie vor der Prüfung auf dem Abreiteplatz neben den Reitern ritt, die sie aus Regelwettbewerben kannten, und freute sich gleichzeitig, weil alles perfekt gelaufen war. Und auch wenn die Resonanz in ihrem Umfeld fast durchweg positiv ausfiel: Manch einer fragte sich insgeheim, was sie in der Para-Dressur zu suchen habe. »Ich habe das gespürt und es tat mir in der Seele weh«, erinnert sich Regine Mispelkamp.

Dennoch fühle sie sich wesentlich „geerdeter“, seitdem sie ihre Krankheit nicht mehr verbirgt. Sie könne, berich-tet sie, die MS nun als einen Teil ihres Lebens akzeptieren. »Aber ich lasse mich von der Krankheit nicht bestimmen und ich möchte zeigen, dass man auch mit gesundheitlichen Einschränkungen auf höchstem Niveau reiten kann«, sagt Mispelkamp. Es gehe ihr darum, anderen chronisch Kranken Mut zu machen und sie zu ermuntern, ihre Ziele weiter zu verfolgen.

Seit ihrem ersten Start im Para-Sport hat Regine Mispelkamp bei jedem Tur-nier ein kleines Bild dabei. Es zeigt zwei Strichmännchen: Das eine hält einen Topf, auf dem das Wort „Glück“ steht. Das andere fragt: »Wo hast du es gefunden? Ich hab’ schon überall danach gesucht.« Die Figur mit dem Topf antwortet: »Habe ich selbst gemacht.«

Regine Mispelkamp arbeitet unermüdlich an ihrem Glück und hat bereits das nächste sportliche Großereignis ins Auge gefasst: Die Europameisterschaften der Para-Equestrian, die nächstes Jahr im niederländischen Rotterdam stattfinden. Selbstverständlich startet sie dort wieder mit ihrem wunderbaren Wallach Look at me now. ak