Multiple Sklerose: Kurzschluss im Kopf
Italienische Forscher haben herausgefunden, dass MS-Kranke häufig an neuropathischen Schmerzen leiden. Ursache ist die Schädigung von Nervenfasern im zentralen Nervensystem.
Schmerzen gehören zum Leben. Sie sind unangenehm, oft aber auch nützlich: Denn in den meis-ten Fällen sind sie Alarmsignale dafür, dass mit unserem Körper etwas nicht in Ordnung ist. Kopfschmerzen entstehen zum Beispiel häufig, wenn wir gestresst sind. Sie ermahnen uns, mal wieder einen Gang zurückzuschal-ten. Rückenschmerzen sind vielleicht ein Hinweis darauf, dass wir am Büroarbeitsplatz eine falsche Haltung ein-nehmen, und Bauchschmerzen sind nicht selten die Folge eines zu üppigen Essens. Solche Schmerzen – in der Fachsprache nozizeptive Schmerzen genannt – lassen sich gut mit gebräuchlichen Schmerzmitteln wie Ibuprofen oder Paracetamol behandeln. Bei Muskel- oder Knochenschmerzen helfen auch Bewegung oder physiotherapeutische Übungen.
Anders sieht es aus, wenn die Nervenzellen, die normalerweise die Schmerzsignale an das Gehirn weiterleiten, selbst zur Ursache des Schmerzes werden. Man spricht dann von neuropathischen Schmerzen oder auch einfach von Nervenschmerzen.
Unter Multiple Sklerose-Patienten ist diese Schmerzart besonders verbrei-tet, wie ein italienisches Forscherteam jetzt herausgefunden hat. Die Wissenschaftler haben sich im Rahmen einer Studie genauer angesehen, wie häufig MS-Patienten von Schmerzen betroffen sind und um welche Art von Schmerz es sich dabei handelt. Sie befragten 1.249 Personen intensiv zu ihren Schmerzerinnerungen und -empfindungen, untersuchten sie körperlich und ließen sie einen speziellen Fragebogen ausfüllen.
Das Ergebnis: Rund ein Drittel der Teilnehmer litt unter Schmerzsyndromen, die im Zusammenhang mit ihrer MS-Erkrankung standen. Bei fast jedem Zweiten von ihnen (43 Prozent) waren neuropathische Schmerzen die Ursache des Leidens. Die Schmerzintensität stieg, so eine weitere Beobachtung, mit dem Grad der Behinderung. Die Autoren hoffen, dass ihre Forschungsergebnisse Fachärzten bei der Schmerzbehandlung von MS-Kranken helfen können. Denn unterschiedliche Schmerzarten erfordern auch unterschiedliche Therapien.
Wie neuropathische Schmerzen entstehen
Neuropathische Schmerzen werden durch Schäden oder Erkrankungen von Nervenfasern hervorgerufen. Bei der MS geschieht das im zentralen Nervensystem, also im Rückenmark oder Gehirn. Nervenfasern sind von einer Schutzhülle, dem sogenannten Myelin, umgeben. Man kann sie sich wie die Kunststoffummantelung von Kabeln vorstellen. An den schadhaften Stellen kommt es spontan oder durch bestimmte Bewegungen zu elektrischen Entladungen, die auf andere Nerven übergreifen – wie bei einem Kurzschluss zwischen zwei nicht isolierten elekt-rischen Drähten. Die Folge können impulsartig einschießende, „elektrisierende“ Schmerzen sein.
Bei der Trigeminusneuralgie zum Beispiel treten sie in der oberen Gesichtshälfte auf. Oft reicht schon ein Windstoß oder eine leichte Berührung beim Waschen oder Rasieren als Auslöser. Betroffene schildern den Schmerz wie einen Messerstich ins Gesicht.
Ein weiteres typisches MS-Schmerzsyndrom ist das Lhermitte-Phänomen: Beim Vornüberbeugen des Kopfes strahlt der Schmerz vom Nacken über den Rumpf in die Arme oder Beine aus. Er wird von Betroffenen wie ein leichter Stromstoß, manchmal auch wie ein sich ausbreitendes Kribbeln wahrgenommen.
Darüber hinaus leiden viele Patienten unter chronischen neuropathischen Schmerzen. Betroffene beschrei-ben sie als Brennen und Ziehen in Füßen und Beinen. Diese Missempfindungen treten insbesondere in der Nacht auf und verstärken sich bei höheren Temperaturen.
Ursachen kennen – Schmerzen bekämpfen
Die italienischen Forscher haben in ihrer Studie zwar nachgewiesen, dass die Schmerzen von MS-Betroffenen häufig eine neuropathische Ursache haben, also auf die Schädigung von Nervenbahnen zurückzuführen sind. Doch das allein hilft dem Patienten nur bedingt. Denn so vielfältig die Krankheit MS ist, so vielfältig ist auch ihr Schmerzbild. Zu einer besseren Diagnose kann jeder MS-Patient einen Beitrag leisten, und zwar mit einem Schmerzprotokoll. MS-Patienten sollten daher genau auf-schreiben, zu welchen Tages- oder Nachtzeiten ihre Schmerzen auftreten, wie lange sie anhalten, wie intensiv sie sind und welche Körperteile betroffen sind. Die Angaben helfen dem Arzt, den Ursprung der Schmerzen schneller zu erkennen und gezieltere Behandlungsformen einzuleiten. tl