Darm & Gehirn: Die Macht der winzigen Keime

Im Darm lebt ein Mikrokosmos aus Milliarden von Bakterien. Über vielfältige Wege kommunizieren die Mikroben auch mit dem Gehirn. Und immer deutlicher wird, dass sie sogar die Entstehung und den Verlauf neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen beeinflussen können. In Zukunft lässt sich das womöglich therapeutisch nutzen.

Egal ob mitten in der Wüste oder irgendwo auf hoher See: Der Mensch ist nie allein. Wohin er sich auch wendet, begleitet ihn stets ein ganzes Universum winzigster Lebewesen. Wir gehen heute davon aus, dass jeder Mensch in etwa von so vielen Bakterien besiedelt wird, wie es Menschen auf der Erde gibt , sagt der Neuroimmunologe Professor Hartmut Wekerle vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried.

Die Keime tummeln sich auf der Haut, in den Schleimhäuten und vor allem im Darm. Zusammen bringen sie bei einem Erwachsenen mehr als zwei Kilogramm auf die Waage. Etwa ein Drittel der festen Bestandteile des Kots besteht aus Bakterien. Und auch wenn das alles vielleicht ein bisschen eklig klingt: Ohne seine mikroskopisch winzigen Mitbewohner wäre der Mensch nicht überlebensfähig.

Die Bakterien schützen nicht nur, allein durch ihre bloße Anwesenheit, vor krankheitserregenden Artgenossen. Sie trainieren auch das Immunsystem, produzieren lebenswichtige Vitamine und Botenstoffe und helfen zudem mit, die Nahrung zu verdauen – um den Menschen, in dem sie leben, mit allen nötigen Nährstoffen zu versorgen.

Und das ist längst noch nicht alles. Der Gesamtheit der Bakterien im Darm, dem Mikrobiom, wird heute eine Schlüsselrolle in der Entstehung vieler chronischer Krankheiten zugeschrieben , sagt Wekerle. Ist das Mikrobiom gestört, geht es auch dem Menschen, den es besiedelt, offenbar nicht sonderlich gut.

Wie ein Fingerabdruck

In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler immer mehr Hinweise gefunden, dass eine veränderte Bakterienwelt im Verdauungstrakt nicht nur zu Darmkrankheiten und Fettleibigkeit führen kann, sondern vermutlich auch an der Entstehung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen, wie Multipler Sklerose, Parkinson, Alzheimer oder Depressionen, beteiligt ist.

Man weiß heute, dass jeder Mensch sein ganz individuelles Mikrobiom besitzt, das ihn wie ein Fingerabdruck auszeichnet. Als gestört gilt dieser Minikosmos im Darm vor allem dann, wenn die Vielfalt der Bakterienwelt reduziert ist. Bei vielen Krankheiten beobachten wir eine Abnahme der Arten im zweistelligen Prozentbereich , sagt Professor Stefan Schreiber, der Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie an der Universität Kiel und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Probiotische Medizin.

Über Blut und Nerven

Warum ein artenarmes oder auch auf andere Weise gestörtes Mikrobiom zu einer solchen Vielzahl von Krankheiten führen kann, darüber lässt sich bislang nur spekulieren. Noch ist es daher auch wenig sinnvoll, sich das eigene Mikrobiom analysieren zu lassen – wie es manche Firmen, meist für viel Geld, bereits anbieten. Klar ist bisher nur, dass die Keime im Darm mit ihren unzähligen Stoffwechselprodukten über das Blut und die Nerven mit dem gesamten Körper, auch dem Gehirn, in Verbindung stehen.

Darüber hinaus sind die Bakterien allem Anschein nach in der Lage, Immunzellen des Darms zu aktivieren – die sich dann auf eine Reise durch den Körper begeben und dort mitunter ein fatales Werk beginnen. Man hat beispielsweise Hinweise gefunden, dass bei MS-Patienten bestimmte Immunzellen, die autoimmunen T-Zellen, aus dem Darm ins Gehirn einwandern und dort die schützende Myelinschicht der Nervenzellen angreifen , sagt Wekerle.

Schon länger im Fokus der Neurowissenschaftler steht zudem ein ganz bestimmtes Stoffwechselprodukt der Darmbakterien: die kurzkettigen Fettsäuren. Denn diese scheinen direkt – und zwar positiv – auf die Immunzellen des zentralen Nervensystems, die Mikroglia, einwirken zu können. Im Gehirn stellen diese sternförmigen Zellen unter anderem eine Art Müllabfuhr dar. Sie beseitigen Abfallstoffe und sind, wenn sie ihre Aufgabe nicht zuverlässig erledigen, an der Entstehung sämtlicher neurodegenerativer Erkrankungen, wie Alzheimer, Parkinson oder Amyothropher Lateralsklerose, beteiligt , erläutert Wekerle.

Viele Ballaststoffe

Ein Forscher, der sich intensiv mit dem Einfluss solcher kurzkettigen Fettsäuren auf den Verlauf der MS beschäftigt, ist Professor Aiden Haghikia, leitender Oberarzt an der Klinik für Neurologie der Ruhr-Universität Bochum im St. Josef-Hospital. Darmbakterien stellen diese kleinen Moleküle vor allem aus pflanzlichen und ballaststoffreichen Lebensmitteln, wie Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten und Vollkornprodukten, her , sagt Haghikia. Es kann daher keinesfalls schaden, solche Lebensmittel nach und nach in größeren Mengen in den eigenen Speiseplan mitaufzunehmen.

Dass umgekehrt eine ballaststoffarme Ernährung, die viel Zucker und tierische Fette enthält, die gesunde Artenvielfalt im Darm reduziert, legen die Ergebnisse zweier großer Beobachtungsstudien nahe, die vor drei Jahren in der renommierten Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurden. Die Forscher hatten die Stuhlproben von mehr als 6.000 Menschen analysiert und sie mit den Ernährungsgewohnheiten ihrer Probanden verglichen.

Gesunde Fettsäuren

In seinen eigenen Experimenten hat Haghikia bereits zeigen können, dass langkettige Fettsäuren, wie sie zum Beispiel auch in Palmöl stecken, vermehrt entzündlich wirkende Immunzellen entstehen lassen – während kurzkettige Fettsäuren eher zur Bildung regulatorischer Immunzellen führen, die eine antientzündliche Wirkung haben. Bei Mäusen mit einer MS-ähnlichen Erkrankung wanderten nach der Gabe von Propionsäure, einer kurzkettigen Fettsäure, vermehrt regulatorische T-Zellen ins Gehirn ein und verbesserten so die Symptome der Tiere , berichtet Haghikia. Langkettige Fettsäuren hätten den gegenteiligen Effekt gehabt.

In einer ersten Studie am Menschen mit hundert MS-Patienten stieg Haghikia zufolge durch eine 14-tägige Einnahme von Propionsäure – zusätzlich zur bestehenden Therapie – die Zahl der regulatorischen T-Zellen, die bei der MS in aller Regel reduziert ist, fast auf ein gesundes Maß an. Wir planen jetzt eine größere Studie mit mehr Patienten, in der wir den Effekt von Propionsäure, auch auf die Symptome der MS, mit dem eines Placebos vergleichen wollen , sagt der Neurologe.

Eine weitere Patientenstudie startet derzeit an der Charité und dem Immanuel Krankenhaus in Berlin. Die Mediziner um Professor Andreas Michalsen wollen herausfinden, ob sich der Verlauf einer schubförmig-remittierenden MS durch eine bestimmte Form der Ernährung – die ja immer auch das Mikrobiom mitbeeinflusst – verbessern lässt. Hierzu sollen drei Diättypen miteinander verglichen werden: das Intervallfasten, bei dem nur zu bestimmten Zeiten am Tag gegessen werden darf, eine ketogene, also sehr kohlenhydratarme Diät sowie eine überwiegend vegetarische Ernährung als allgemein gesunde Ernährungsform.

Schwere Schlaganfälle

Einen Zusammenhang zwischen dem Mikrobiom und einer anderen neurologischen Erkrankung hat ein weiterer Forscher der Berliner Charité ausgemacht: Uns war aufgefallen, dass ein Schlaganfall stets messbare Veränderungen des Immunsystems nach sich zieht und die Patienten im Anschluss oft zusätzlich an einer Lungenentzündung erkranken , sagt Professor Ulrich Dirnagl von der Abteilung für Experimentelle Neurologie.

Noch ist seine Theorie, dass es sich bei den Verursachern der Pneumonien um Darmkeime handelt, zwar nicht bewiesen. Dennoch beschäftigt ihn das Leben im Verdauungstrakt weiterhin.

So konnte Dirnagl beispielsweise herausfinden, dass Mäuse, deren Mikrobiom man durch hochdosierte Antibiotika komplett zerstört hatte, schwerere Schlaganfälle erleiden und auch eher daran versterben als Artgenossen mit einer gesunden Vielfalt im Darm. Da viele Patienten nach einem Schlaganfall Antibiotika einnehmen müssen, sind derartige Beobachtungen für uns natürlich relevant , sagt er. Der Neurologe plant daher jetzt eine Studie, mit der er überprüfen will, ob eine Gabe von Probiotika, also lebenden Bakterienkulturen, die Folgen eines Schlaganfalls abmildern kann.

Wissenschaftlich weniger fundierte Experimente, um die Artenvielfalt im Darm aufzufrischen, gibt es bereits seit geraumer Zeit – sei es durch Probiotika, Präbiotika oder auch Stuhltransplantationen. Etablierte Therapien existieren bisher aber kaum. Natürlich kann eine Einnahme von Probiotika die Artenvielfalt im Darm steigern , sagt der Kieler Mediziner Schreiber. Ob das dann aber tatsächlich krankheitslindernd wirkt, weiß man bislang nicht.

Schaden können die in vielen Supermärkten und Drogerien erhältlichen Produkte Schreiber zufolge kaum. Wer allerdings Medikamente einnimmt, die das Immunsystem unterdrücken, sollte Probiotika besser nicht auf eigene Faust ausprobieren , warnt Schreiber. Und zu hoch sollten die Erwartungen an die kleinen Helferlein auch nicht sein: Eine Depression heilen könnten Probiotika mit Sicherheit nicht, betonen Schreiber und Dirnagl übereinstimmend.

Mehr pflanzliche Lebensmittel

Neben Probiotika sind auch immer mehr Präbiotika erhältlich. So ähnlich, wie die beiden Begriffe klingen, kann dies leicht zu Verwirrungen führen. In Präbiotika stecken allerdings keine lebenden Bakterien, sondern Substanzen, die die Keime füttern und so zu ihrer Vermehrung beitragen sollen. Meistens handelt es sich bei Präbiotika um pflanzliche Ballaststoffe oder die Mehrfachzucker Inulin und Oligofructose – alles Stoffe, die von den menschlichen Verdauungsenzymen nicht abgebaut werden.

Eine ausgewogene Ernährung mit vielen pflanzlichen Lebensmitteln liefert ebenfalls eine Vielfalt von Ballaststoffen , sagt auch Schreiber. Somit ist sie vermutlich mindestens ebenso wirkungsvoll wie eigens gekaufte Präparate.

Dringend abraten möchten alle Experten, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, von Stuhltransplantationen. Bei diesem Verfahren wird der aufbereitete Kot eines gesunden Menschen in den Darm eines Erkrankten gespritzt, um ein gestörtes Mikrobiom zu regenerieren. Derzeit gebe es nur eine einzige Erkrankung, die einen solch gravierenden Eingriff rechtfertige, sagen sie: eine schwere Infektion mit dem Bakterium Clostridium difficile, die mit Antibiotika nicht geheilt werden konnte. ab