Multiple Sklerose: Wir hoffen auf sanftere Therapien
Keimfrei aufgewachsene Mäuse, die Stuhlproben von Menschen mit Multipler Sklerose erhalten, entwickeln im Labor ebenfalls Symptome der Erkrankung. Was das für MS-Patienten künftig bedeuten könnte, erläutert der Neuroimmunologe Professor Hartmut Wekerle vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried.
Herr Professor Wekerle, Sie haben vor einigen Jahren in Versuchen an Mäusen herausgefunden, dass das Mikrobiom – also die Gesamtheit aller Bakterien im Darm – bei der Entstehung der Multiplen Sklerose offenbar eine nicht zu unterschätzende Rolle einnimmt. Wie sahen Ihre Experimente aus und was kam dabei heraus?
Wir haben mit Mäusen gearbeitet, die genetisch so verändert sind, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann im Laufe ihres Lebens eine Krankheit entwickeln, die der Multiplen Sklerose beim Menschen in vielen Punkten ähnelt. Zunächst einmal konnten wir feststellen, dass diese Tiere nur unter normalen hygienischen Bedingungen erkranken. Werden sie hingegen komplett keimfrei gehalten, bleiben die allermeisten Nager von den Symptomen der MS verschont.
Das allein könnte allerdings auch bedeuten, dass das Immunsystem der keimfreien Mäuse schlicht zu schwach ist, um sich gegen den eigenen Körper zu richten.
Genau. Im nächsten Schritt haben wir den Tieren deshalb Fäkalproben von Artgenossen übertragen, die zwar in sauberen, aber nicht sterilen Käfigen aufgewachsen waren und trotzdem bisher keine Anzeichen einer Erkrankung zeigten. Daraufhin entwickelten die bis zu diesem Zeitpunkt keimfreien Mäuse zunehmend Symptome der MS. Somit schlussfolgerten wir, dass Darmkeime allem Anschein nach ein wichtiger Auslöser der Multiplen Sklerose sein müssen.
Wie gut lassen sich solche Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen übertragen?
Natürlich unterscheiden sich sowohl das Immun- als auch das Nervensystem von Maus und Mensch. Allerdings gibt es auch sehr weitgehende und grundsätzliche Übereinstimmungen. Einige der wichtigsten MS-Therapien, über die wir derzeit verfügen, sind das direkte Ergebnis von Tierversuchen. Der Wirkstoff Glatirameracetat etwa wurde zunächst erfolgreich an Ratten getestet. Auch der Antikörper Natalizumab, der die Einwanderung von Immunzellen ins Gehirn blockiert, wurde im Rattenmodell entwickelt. Beide Beispiele zeigen uns, dass viele der an Tieren gewonnenen Einsichten auch für den Menschen gelten.
Haben Sie weitere Erkenntnisse zur Entstehung der MS seit Ihren ersten Mäuseexperimenten gewonnen? Immerhin liegen diese schon rund sieben Jahre zurück.
Wir haben beispielsweise im vergangenen Jahr eine Studie publiziert, für die wir unseren keimfrei gehaltenen Labormäusen menschliche Stuhlproben verabreicht haben. Diese stammten von fünfzig eineiigen, also genetisch identischen Zwillingspaaren, von denen jeweils ein Zwilling an MS erkrankt war. Dabei konnten wir beobachten, dass auch der Stuhl von Menschen dazu führt, dass die keimfrei aufgewachsenen Mäuse MS-Symptome entwickeln.
Gab es Unterschiede zwischen den Tieren, je nachdem wer der Spender der Stuhlprobe gewesen war?
In der Tat. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Mäuse erkrankten, war sehr viel höher, wenn sie den Stuhl – und damit das Mikrobiom – eines MS-Patienten erhalten hatten. Auch ihre Symptome waren dann stärker als bei Artgenossen, die mit dem Mikrobiom eines nicht erkrankten Zwillings in Berührung gekommen waren. Diese Beobachtungen lieferten uns den entscheidenden Hinweis darauf, dass in der menschlichen Darmflora Komponenten enthalten sein müssen, die eine Wirkung auf die Entstehung und den Verlauf der MS ausüben.
Könnte eine Störung des Mikrobioms womöglich sogar alleiniger Trigger der MS sein? Oder müssen grundsätzlich weitere Faktoren hinzukommen, damit die Erkrankung ausbricht?
Dass allein eine veränderte Darmflora zum Ausbruch der Multiplen Sklerose führt, ist nicht zu erwarten. Auch die Genetik spielt bei der Entstehung der Krankheit eine wichtige Rolle. Man kennt heute mehr als 200 Genvarianten, die das Risiko für eine MS erhöhen. Insgesamt machen diese Erbanlagen wahrscheinlich rund ein Drittel des Gesamtrisikos aus.
Das würde bedeuten, dass andere Faktoren in deutlich stärkerem Maße, nämlich zu zwei Dritteln, am Ausbruch der Erkrankung beteiligt sind.
Ja, nur leider sind diese Faktoren noch weitgehend unbekannt. Es könnte sich dabei aber durchaus um Bakterien handeln oder auch um bestimmte Bestandteile der Nahrung, die wiederum das Mikrobiom des Darms beeinflussen würden. Bei unserer Suche nach konkreten Auslösern stehen wir leider noch sehr am Anfang.
Was bedeuten Ihre Forschungsergebnisse zum jetzigen Zeitpunkt für Patienten mit Multipler Sklerose?
Mit unseren Studien wecken wir zumindest berechtigte Hoffnungen darauf, dass es in nicht allzu ferner Zeit neue und weniger belastende Therapiemöglichkeiten geben könnte. Wenn es uns zum Beispiel gelingt, bestimmte pathogene, also krankmachende Komponenten des Mikrobioms zu identifizieren, könnte man versuchen, diese zu eliminieren – entweder mit spezifisch wirkenden Antibiotika oder mit Phagen. Das sind Viren, die einzelne Bakterienarten gezielt angreifen und zerstören. Man könnte auch durch die Einnahme spezieller Probiotika, also lebender Bakterienstämme, versuchen, die schädlichen Arten zu verdrängen. Eine weitere Option wäre es, das Mikrobiom durch die Einhaltung bestimmter Diäten gezielt zu manipulieren.
Können MS-Patienten schon heute den Verlauf ihrer Erkrankung durch die richtige Pflege des Mikrobioms zumindest ein wenig beeinflussen?
In Fachzeitschriften wird immer wieder mal von Diäten berichtet, die bei manchen MS-Patienten offenbar zu erstaunlichen Erfolgen geführt haben. Es gibt aber leider keine Garantie dafür, dass solche Ernährungsversuche allen Menschen mit Multipler Sklerose helfen. Noch kann ich diesbezüglich leider keine wissenschaftlich fundierten Empfehlungen geben. Bis es soweit ist, liegen noch ein hartes Stück Arbeit und viele Studien mit größeren Patientengruppen vor uns.
Das heißt, Sie haben gar keine Tipps für ein gesundes Mikrobiom parat?
Doch, aber sie sind momentan eher allgemeiner Natur. Eine gesunde und leichte Kost mit viel Gemüse ist in jedem Fall zu empfehlen – unabhängig davon, ob man an MS oder einer anderen neurologischen Erkrankung leidet oder nicht. Tierische Fette, wie sie zum Beispiel in Butter, Schweinefleisch und Wurst enthalten sind, sollte man allenfalls in Maßen konsumieren. Ob probiotische Joghurts der Darmflora nutzen, ist leider noch umstritten. Schaden können sie, soweit wir wissen, jedenfalls nicht. ab