Schmerz: Völlige Schmerzfreiheit ist nicht das Ziel

Der Schmerzmediziner Norbert Schürmann erläutert, was eine gute und vor allem individuelle Schmerztherapie heutzutage ausmacht – und wie sich der Patient dabei optimal einbringen kann.

Herr Schürmann, eine gute Schmerztherapie richtet sich in erster Linie nach den Bedürfnissen des jeweiligen Patienten. Wie lassen sich diese am besten ermitteln?

Gerade in der Schmerztherapie ist das Gespräch zwischen Arzt und Patient sowie der regelmäßige Kontakt zwischen ihnen von besonderer Bedeutung. Vor Beginn der Behandlung sollte eine sorgfältige Anamnese erfolgen, bei der die Stärke, Häufigkeit, Dauer, Art und die wahrscheinliche Ursache der Schmerzen sowie sämtliche Begleiterkrankungen erfasst werden. Für den Arzt ist es sehr hilfreich, wenn sich der Patient oder auch seine Angehörigen auf dieses erste Gespräch gut vorbereiten, vielleicht sogar in schriftlicher Form.

Was gilt es für den Patienten, bei der Wahl der optimalen Therapie zu beachten?

Er kann sich zum Beispiel schon im Vorfeld überlegen, ob ihm eine möglichst starke Linderung seiner Schmerzen so wichtig ist, dass er bereit ist, auch die Nebenwirkungen der dann erforderlichen höheren Medikamentendosis zu akzeptieren. Gerade jüngere Patienten, die noch voll im Berufsleben stehen, sind oft eher bereit, ein gewisses Maß an Schmerzen hinzunehmen, um eine häufige Nebenwirkung von Opioiden, die Müdigkeit, zu vermeiden. Wichtig ist, dass der Arzt seinen Patienten sowohl über die zu erwartenden Wirkungen als auch über mögliche Nebenwirkungen der verschiedenen Therapieoptionen gut aufklärt. Oft wünschen sich die Patienten nämlich eine bestimmte Form der Behandlung, die bei näherem Hinsehen dann doch gar nicht so gut für sie ist.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Viele Patienten mit chronischen Schmerzen würden beispielsweise lieber ein Opioidpflaster verwenden, als den Wirkstoff in Tablettenform einzunehmen. Sie glauben, ein Pflaster, das nur alle paar Tage gewechselt werden muss, sei praktischer, als täglich Medikamente zu schlucken. Damit haben sie zwar prinzipiell recht. Dennoch haben die Pflaster auch Nachteile. Denn die Wirkstoffmenge, die sie abgeben, ist deutlich weniger konstant als bei einer Tablette und hängt zum Beispiel von der Hautdurchblutung ab. Die ist im Winter oder bei älteren Menschen oft schlechter als im Sommer oder bei jüngeren Patienten.

Welches sind die wichtigsten Unterschiede zwischen der Behandlung akuter und chronischer Schmerzen?

Wenn es um die Therapie chronischer Schmerzen geht, die ja oft über viele Jahre hinweg erfolgt, sollten gerade bei Opioiden immer nur retardierte Präparate zum Einsatz kommen. Bei ihnen wird der Wirkstoff über mehrere Stunden hinweg in gleichmäßigen Mengen abgegeben. Nichtretardierte Medikamente eignen sich eigentlich nur für die Akutbehandlung, da es bei ihnen zu einer raschen Freigabe des Wirkstoffs kommt. Dies kann auf die Dauer leicht zu Suchtverhalten und Medikamentenabhängigkeit führen.

Sie haben bisher viel von Opioiden gesprochen. Ist die Rolle, die diese Wirkstoffe in der Schmerztherapie spielen, so viel größer als die anderer Medikamente?

Ja, das ist sie tatsächlich. Der große Vorteil von Opioiden ist, dass sie überall dort im Körper wirken, wo es Rezeptoren für sie gibt – also nicht nur im zentralen Nervensystem. Zudem lösen Opioide keine Organschäden aus, weswegen Schmerzpatienten sie über viele Jahre hinweg einnehmen können.

Ist das bei den restlichen Schmerzmitteln anders?

Ja. Gerade die Präparate aus der Gruppe der nichtsteroidalen Antirheumatika, kurz NSAR, zu denen zum Beispiel die Wirkstoffe Ibuprofen und Diclofenac gehören, können zu ernsthaften Nebenwirkungen wie Magengeschwüren und -blutungen führen. Auch Leber- und Nierenschäden sind bei Daueranwendung möglich. In hohen Dosierungen und bei längerer Einnahme steigern sie zudem das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. NSAR eignen sich daher nur zur Behandlung akuter Schmerzen und sollten möglichst nicht länger als zwei, drei Wochen eingenommen werden.

Gibt es Schmerzmittel, die speziell bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen zum Einsatz kommen?

Viele Menschen mit MS leiden durch ihre Spastiken an starken Schmerzen. Hier haben sich beispielsweise Cannabinoide, die es als Fertigarzneimittel in Sprayform gibt, als Add-on-Therapie – also als zusätzliche Behandlungsform – bewährt. Neuropathische Schmerzen lassen sich oft gut mit den Wirkstoffen Gabapentin oder Pregabalin lindern. Beide reduzieren die Geschwindigkeit, mit der Signale in den Nerven weitergeleitet werden.

Viele Menschen mit neurologischen Erkrankungen müssen auch ohne Schmerzmittel schon eine ganze Reihe von Medikamenten einnehmen. Was ist bei diesen Patienten besonders zu beachten?

Ich würde in solchen Fällen zu möglichst nur einem Präparat mit einer 24-Stunden-Wirkung raten, um das Risiko für Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten so gering wie möglich zu halten. Muss ein Patient ohnehin schon viele Tabletten schlucken, kann bei ihm vielleicht doch ein Opioidpflaster sinnvoller sein als ein weiteres Arzneimittel, das oral einzunehmen ist. Ansonsten ist eine Kombination verschiedener Schmerzmedikamente der Verwendung nur eines Präparates oft vorzuziehen, da sich die Mittel in ihrer Wirkung meist gut ergänzen.

Welche Besonderheiten sind in der Palliativversorgung zu berücksichtigen?

Gerade hier ist das Gespräch zwischen Arzt, Patient und dessen Angehörigen überaus wichtig. Der Arzt kann Teil des betreuenden Netzwerkes sein, zu dem meist auch Pfleger und Psychologen gehören. Wenn es um die Wahl des passenden Schmerzmedikamentes geht, kommen bei Palliativpatienten häufig auch nichtretardierte Opioide zum Einsatz, um besonders heftige Schmerzattacken schnellstmöglich zu lindern.

Sie sprachen vorhin davon, dass die nichtretardierten Opioide leicht suchterzeugend sind. Machen die retardierten Präparate nicht auch abhängig?

Ich würde in dem Fall nicht von einer Abhängigkeit oder zumindest nicht von Sucht sprechen. Retardierte Opioide sind ein Hilfsmittel, man könnte sie mit einer Brille vergleichen. Die wird von vielen Menschen benötigt, um im Alltag besser zurechtzukommen. Aber niemand käme auf die Idee zu sagen, dass man von einer Brille abhängig – im Sinne von süchtig – ist.

Dennoch sollte man eine Therapie mit Opioiden nicht abrupt beenden. Warum?

Tatsächlich kann es bei einem plötzlichen Stopp der Einnahme zu Entzugserscheinungen, etwa zu Unruhe, kommen. Daher sollte man die Medikamente nur nach und nach absetzen. Mediziner bezeichnen das als Ausschleichen einer Therapie. Das bedeutet aber nicht, dass retardierte Opioide Suchtverhalten auslösen.

Wie ist es bei Cannabinoiden um die Suchtproblematik bestellt?

Bei jüngeren Patienten versuche ich, auf diese Präparate zu verzichten. Das hat zwei Gründe. Zum einen ist der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol, besser bekannt als THC, bei jüngeren Patienten eher suchterzeugend als bei älteren. Zum anderen führt er nach jetzigem Wissensstand im jungen Alter leichter als in späteren Jahren zu Psychosen.

Welches sind die häufigsten Nebenwirkungen von Schmerzmedikamenten und wie geht man am besten mit ihnen um?

Zu den wichtigsten ungewollten Begleiterscheinungen der Opioidtherapie gehören Schwindel, Übelkeit, Müdigkeit und Verstopfung. Schwindel und Übelkeit sind meist nur in den ersten zwei, drei Wochen ein Problem und verschwinden danach in der Regel von selbst. Bis dahin lassen sie sich mit Antiemetika behandeln. Auch die Darmträgheit bekommt man mit Wirkstoffen wie Macrogol meist leicht in den Griff. Generell beginnt man in der Schmerztherapie mit niedrigen Dosierungen und steigert diese bei Bedarf allmählich – so lange, bis der Patient eine gute Wirkung bei möglichst geringen Nebenwirkungen verspürt.

Ist das Ziel einer guten Schmerztherapie nicht die Schmerzfreiheit? Oder welche Schmerzen muss der Patient bereit sein auszuhalten?

Dass ein Patient mit chronischen Schmerzen durch Medikamente dauerhaft und hundertprozentig schmerzfrei wird, ist ein unrealistisches Ziel. Eine Reduktion der Schmerzen um 50 Prozent ist bereits ein großartiger Erfolg. Oft lassen sich die Schmerzen auch nur um 20 bis 30 Prozent lindern. Doch selbst das bedeutet für die meisten Patienten einen großen Gewinn an Lebensqualität.

Welche weiteren Möglichkeiten hat man, um mit den verbleibenden Schmerzen besser zurechtzukommen?

Medikamente sollten immer nur Teil der Schmerztherapie sein, die dem Patienten vor allem dabei helfen, wieder in Bewegung zu kommen und aktiv zu bleiben. Durch mangelnde Bewegung verstärken sich die meisten Schmerzen. Vielfach helfen lokal wirkende Therapien, etwa mithilfe von Strom, Kälte, Wärme oder Verbänden. Darüber hinaus profitieren viele Schmerzpatienten von Physiotherapie, Entspannungstechniken oder auch meditativen Verfahren. Nicht zuletzt kann es sehr sinnvoll sein, in Selbsthilfegruppen den Kontakt zu Gleichgesinnten zu suchen. Passende Adressen erfährt man zum Beispiel über die Deutsche Schmerzliga und deren Regionalverbände. Wie heißt es doch so schön: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Das gilt bei Schmerzen ganz besonders.