Schmerz: Eine Spritze gegen Migräne

Mit einer neuen Klasse von Antikörpern können Menschen mit schwerer Migräne den quälenden Attacken wirkungsvoll vorbeugen. Der NTC-Neurologe Dr. Andreas Peikert beschreibt die wichtigsten Vor- und Nachteile der Wirkstoffe und erklärt, für welche Patienten sie sich vorrangig eignen.

Herr Dr. Peikert, in jüngster Zeit sind gleich drei neue Antikörper-Präparate zur vorbeugenden Behandlung der Migräne zugelassen worden. Ihre Namen klingen kompliziert: Erenumab, Galcanezumab und Fremanezumab. Was können die neuen Wirkstoffe?

Erenumab können wir seit November vergangenen Jahres verschreiben, Galcanezumab ist hierzulande seit April auf dem Markt. Von beiden Präparaten wissen wir, dass sie in der Lage sind, die Zahl der Migränetage deutlich zu reduzieren – und zwar auch und vor allem bei Patienten, denen wir mit anderen Wirkstoffen bisher nicht haben helfen können. Doch natürlich sind unsere Erfahrungen mit dieser ganz neuen Substanzklasse noch sehr begrenzt. Fremanezumab hat gerade erst die europäische Zulassung erhalten und ist bei uns seit dem 1. Mai verfügbar. Allen drei Wirkstoffen ist gemein, dass sie erstmals direkt in die physiologischen Prozesse eingreifen, bei denen die Gefäße der harten Hirnhaut anschwellen und so die typischen Schmerzen hervorrufen.

Wodurch unterscheiden sich die drei Präparate?

Zunächst einmal in ihrem Wirkprinzip. Erenumab blockiert in den Blutgefäßen des Gehirns den sogenannten CGRP-Rezeptor, an den das Neuropeptid CGRP andockt. Die Abkürzung steht für die englische Bezeichnung Calcitonin Gene Related Peptide. Von diesem Botenstoff wissen wir, dass er im Gehirn an der Entzündung beteiligt ist, die zur Migräneattacke führt. Er findet sich zum Beispiel vermehrt im venösen Blut auf derjenigen Seite des Kopfes, die schmerzt. Der Antikörper Galcanezumab hingegen und auch Fremanezumab blockieren nicht den CGRP-Rezeptor, sondern CGRP selbst. Und während die Präparate Erenumab und Galcanezumab einmal im Monat verabreicht werden, kann bei Fremanezumab auch eine vierteljährliche Gabe ausreichen.

Welches sind die wichtigsten Studienergebnisse, die zur Zulassung der neuen Antikörper geführt haben?

Getestet wurden die Präparate sowohl an Patienten mit chronischer Migräne, die regelmäßig an mindestens 15 Tagen im Monat unter Kopfschmerzen leiden, wobei an acht oder mehr Tagen migränetypische Symptome auftreten, als auch an Patienten mit episodischer Migräne, bei denen die Schmerzen seltener sind. Insbesondere bei Patienten, bei denen andere vorbeugend wirkende Präparate wie Betablocker, Flunarizin, Valproat oder Topiramat zuvor nicht die gewünschten Ergebnisse gezeigt hatten, konnten die Antikörper überzeugen. In den Studien erhielt eine Hälfte der Teilnehmer den echten Wirkstoff, die andere Hälfte ein Scheinpräparat. Wie sich herausstellte, waren unter den Probanden, die den Antikörper bekommen hatten, mit etwa 50 Prozent deutlich mehr Responder – also Patienten, bei denen sich die Zahl der monatlichen Migränetage mindestens halbierte – als unter den Teilnehmern, denen man nur ein Placebo verabreicht hatte.

Hatten die Substanzen Nebenwirkungen?

Es zeigte sich, dass Nebenwirkungen unter der Antikörperbehandlung kaum häufiger auftraten als unter der Scheintherapie. Manche Patienten beobachteten allerdings eine – meist moderate – Verstopfung. Nach allem, was wir bisher wissen, handelt es sich bei den neuen Präparaten somit um sehr effektive und zugleich äußerst nebenwirkungsarme Medikamente, die bei chronischer und episodischer Migräne die Zahl der kopfschmerzfreien Tage im Schnitt um sechs beziehungsweise vier Tage pro Monat erhöhen. Für die Betroffenen bedeutet das zum Teil ein enormer Gewinn an Lebensqualität. Die Substanzen helfen aber nicht jedem.

Gibt es weitere Vorteile der Antikörpertherapie?

Die neuen Mittel nimmt man anders als die meisten anderen vorbeugenden Migränemedikamente – nur Botulinumtoxin wird bei der chronischen Form der Erkrankung in die Kopf- und Nackenmuskeln gespritzt – nicht als Tablette ein. Stattdessen werden sie subkutan, also unter die Haut, injiziert. Das kann der Patient selbst machen, so wie es beispielsweise auch Diabetiker jeden Tag tun. Um der Migräne vorzubeugen, reicht eine Spritze im Monat aus. Das ist natürlich viel praktischer, als täglich Medikamente nehmen zu müssen. Zudem werden die anderen zur Verfügung stehenden Substanzen von vielen Patienten nicht gut vertragen oder sie dürfen wegen weiterer Erkrankungen gar nicht erst eingenommen werden.

Sehen Sie Nachteile der Behandlung?

Der Botenstoff CGRP ist in vielen Organen an Stoffwechselprozessen beteiligt. Große Mengen CGRP finden wir beispielsweise im Darm. Darüber hinaus scheint das Molekül in den Blutgefäßen eine wichtige Rolle zu spielen. Einige Experten vermuten, dass es dort vor Durchblutungsstörungen und Bluthochdruck schützt. So wissen wir zurzeit noch nicht, ob eine Langzeitbehandlung über viele Jahre hinweg möglicherweise zu Folgeschäden führt. Zudem ist die Therapie teuer: Eine Spritze Erenumab kostet derzeit knapp 700 Euro, die von den Krankenkassen allerdings bezahlt werden.

Müssen die Antikörper ein Leben lang genommen werden?

Das wissen wir noch nicht. Es gibt bisher keine Studien zu der Frage, ob die Migräne nach dem Abbruch einer Therapie mit Antikörpern in alter Stärke wiederkehrt oder sich womöglich dauerhaft bessert.

Für welche Patienten kommen die neuen Präparate vorrangig in Frage?

Ich würde momentan nur solchen Patienten zu einer vorbeugenden Therapie mit Antikörpern raten, die an einer schweren Migräne leiden – also entweder an der chronischen oder einer hochfrequenten episodischen Form der Erkrankung, bei der sich die Attacken zudem nicht oder nur schlecht mit Medikamenten für die Akuttherapie behandeln lassen. Eine weitere wichtige Voraussetzung, um einen CGRP-Antikörper zu verordnen, sind fehlende Alternativen zu anderen prophylaktisch wirkenden Medikamenten – etwa weil die Arzneien bei einem bestimmten Patienten nicht angeschlagen haben, er sie nicht vertragen hat oder sie wegen möglicher Begleiterkrankungen kontraindiziert sind. So dürfen Migränepatienten mit Asthma zum Beispiel keine Betablocker einnehmen. Für diese Fälle hat auch das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWiG genannt, dem Antikörper Erenumab kürzlich einen erheblichen Zusatznutzen attestiert. Nicht empfehlen würde ich die Antikörper hingegen Patienten mit nur wenigen Migräneattacken im Monat – vor allem dann nicht, wenn diese mit gebräuchlichen Medikamenten gut in den Griff zu bekommen sind.