Multiple Sklerose: Die Macht der winzigen Keime

Eine frühe intensive Behandlung mit Medikamenten, die das Immunsystem beeinflussen, kann das Fortschreiten der Multiplen Sklerose verlangsamen und bleibende Schäden hinauszögern. Das zeigen zwei neue Studien.

Die Multiple Sklerose (MS) verläuft bei den meisten Patienten zunächst in Schüben. Innerhalb von zwei Jahrzehnten nach Krankheitsbeginn geht die schubförmige MS jedoch bei rund 80 Prozent der unbehandelten Patienten in eine chronisch fortschreitende Phase mit bleibenden Behinderungen über.

Verzögern lässt sich dieser Verlauf durch einen frühen Therapiebeginn mit intensiv auf das Immunsystem einwirkenden Medikamenten. Zu diesem Ergebnis kommen zwei Studien, die kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Journal of the American Medical Association (JAMA) veröffentlicht wurden. Bei Patienten, die bereits im Frühstadium intensiv behandelt wurden, schritt die Krankheit demnach weniger schnell voran als bei Patienten, die zunächst eine Basistherapie und erst bei Fortschreiten der Krankheit stärkere Medikamente erhielten.

Fortschreiten der MS bremsen

Die neuen Forschungsergebnisse kommen zu einer Zeit, in der Fachärzte hierzulande über die beste Behandlungsstrategie diskutieren. Dabei geht es um die in den beiden Studien adressierte Frage, ob starke Medikamente bei Patienten mit leichter oder moderater Verlaufsform der MS von Anfang an gegeben werden sollen oder nach einem Stufenschema erst dann, wenn schwächere Medikamente wie Interferone keine Wirkung mehr zeigen.

Ein Befürworter der Gabe starker Medikamente von Beginn an ist Professor Gereon Nelles. Aufgrund unserer klinischen Erfahrung mit MS-Patienten nehmen wir heute an, dass eine frühe intensive Behandlung die Hirnsubstanz schont, sagt der Kölner Neurologe, der sich auf die Therapie der Multiplen Sklerose spezialisiert hat. MS-Patienten, die gleich zu Beginn aggressiv behandelt wurden, haben unserer Erfahrung nach weniger Schübe und die Krankheit schreitet bei ihnen langsamer voran. Nelles sieht seine Erfahrung aus der Klinik in den zwei Beobachtungsstudien bestätigt.

Antikörper schneller einsetzen

Ein Forscherteam um Erstautorin Dr. Katharine Harding, Neurologin an der britischen Cardiff University, hat die beiden Behandlungsstrategien miteinander verglichen.

Die Wissenschaftler untersuchten Daten von 592 MS-Patienten (Durchschnittsalter 27 Jahre) aus einer MS-Patientengruppe in Südwest-Wales. Patienten, die von Anfang an mit den intensiv wirkenden Antikörpern Alemtuzumab * oder Natalizumab behandelt wurden, zeigten fünf Jahre nach Therapiebeginn einen deutlich geringeren Anstieg des Behinderungsgrads als Patienten, die nach dem Stufenschema zunächst mit einem krankheitsmodifizierenden Medikament mit mäßiger Wirkungsstärke therapiert wurden. Gemessen wurde der Unterschied anhand der EDSS-Skala, die Auskunft gibt über den Behinderungsgrad von MS-Patienten (von 0 = keine neurologischen Defizite bis 10 = Tod durch MS). Der EDSS-Wert der gleich nach ihrer Diagnose hochintensiv behandelten Patienten war nach fünf Jahren nur um 0,3 Punkte, der Wert der anderen Patienten jedoch um 1,2 Punkte angestiegen. Offensichtlich lasse sich die Erkrankung in einem frühen Zeitfenster durch die aggressive Behandlung langfristig positiv beeinflussen, schreiben die Wissenschaftler.

Die Idee ist, das Immunsystem durch die aggressive Therapie früh neu zu programmieren, erläutert Nelles. Bei der entzündlichen Autoimmunerkrankung MS greife das Immunsystem fälschlicherweise die Hüllschicht der zentralen Nervenfasern an. Diese Neigung werde durch die neuen MS-Medikamente deutlich abgeschwächt, sagt Nelles.

Therapie innerhalb von fünf Jahren

In der zweiten Untersuchung, einer internationalen Beobachtungsstudie mit 1.555 MS-Patienten, ging es um die Frage, ob unterschiedliche MS-Therapien den Übergang von schubförmiger MS in die fortschreitende Phase mit bleibenden Behinderungen aufhalten können. Die Erkenntnis der Wissenschaftler um Dr. J. William L. Brown, der an der Universität von Cambridge im Bereich Klinische Neurowissenschaften forscht: Bei Patienten, die mit den hoch wirksamen Medikamenten Fingolimod, Alemtuzumab oder Natalizumab behandelt wurden, ging die Erkrankung seltener in die chronisch fortschreitende Phase über als bei Patienten, die mit weniger intensiv wirkenden Präparaten, beispielsweise Interferon beta, therapiert wurden. Überdies zeigte sich, dass eine frühe Therapie innerhalb von fünf Jahren nach der MS-Diagnose den Übergang in eine fortschreitende Phase mit dauerhafter Behinderung aufhalten kann.

Nebenwirkungen, Kosten und Überwachungsbedarf

Seit 1993 sind zahlreiche neue MS-Medikamente auf den Markt gekommen. In den 2018 aktualisierten Europäischen Leitlinien zur Therapie der Multiplen Sklerose geben 27 MS-Spezialisten aus 13 Nationen einen Überblick über die Chancen und Risiken der bestehenden Therapien. Derzeit wird auch die deutsche MS-Leitlinie (letzte Aktualisierung 2014) vom Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) überarbeitet. Für Patienten, die nicht an einer aggressiven schnell fortschreitenden MS-Form erkrankt sind, empfiehlt die deutsche Leitlinie aktuell eine Stufentherapie. Diese beginnt mit Interferonen oder anderen etablierten, aber nicht so stark auf das Immunsystem einwirkenden Medikamenten und kann bei einem Fortschreiten der Erkrankung durch den Einsatz von hochintensiv wirkenden Präparaten gesteigert werden.

Obwohl sich eine frühe aggressive Behandlung in den beiden Beobachtungsstudien als effektiv erwiesen hat, müssen bei der Auswahl des MS-Medikaments sowohl mögliche stärkere Nebenwirkungen als auch aufwändigere ärztliche Kontrolluntersuchungen und die höheren Kosten der intensiveren Therapien berücksichtigt werden, schreiben Brown und seine Kollegen im JAMA. Die beiden Studien bestätigen die Erfahrung aus dem klinischen Alltag, dass eine frühzeitige Behandlung den Verlauf einer Multiplen Sklerose beeinflussen kann und dem ›Abwarten‹ ohne Therapie überlegen ist, sagt der Münchner Neurologe Professor Christian Bischoff. Seiner Meinung nach machen die Ergebnisse darüber hinaus aber auch deutlich, dass bei einer Verschlechterung unter der sogenannten Basistherapie frühzeitig eine Therapieintensivierung hin zu hoch wirksamen Medikamenten erfolgen sollte.

Eine große klinische Studie, die beide Behandlungsstrategien der Multiplen Sklerose miteinander vergleicht, könnte Ärzten mehr Klarheit über die Verschreibung des richtigen Medikaments verschaffen.

* Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) überprüft derzeit das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Alemtuzumab, da es unter der Anwendung zu schweren kardiovaskulären Ereignissen, hämophagozytischer Lymphohistiozytose und Autoimmunhepatitis kam.