Polyneuropathien: Von der Heilkraft des Theaters

Sie ließ sich auch von einer schweren Erkrankung nicht unterkriegen: Ingrid Berzau, die Leiterin des Altentheaters des Freien Werkstatt Theaters Köln. Dabei half ihr nicht nur die eigene Kreativität, sondern auch ein ganz besonderes Ensemble.

Arm in Arm tanzen Ingrid Berzau und ihr Lebensgefährte Dieter Scholz über die Bühne. Dazu singt das Ensemble. Gemeinsam feiern sie das 40-jährige Bestehen des Altentheaters Köln. Viele Jahre, in denen ältere Menschen zusammen Theater gespielt haben, lustige und traurige Stücke, über das Leben, die deutsche und die persönliche Geschichte, über das Altern und das Jungbleiben – immer unter der Leitung von Ingrid und Dieter. Die Mitglieder des Ensembles sind eine große Familie, das merkt an diesem Tag auch jeder im Publikum des Freien Werkstatt Theaters in der Kölner Südstadt, zu dem das Altentheater gehört. Zu der Feier gehört für die Schauspieler natürlich auch, sich an schöne Ereignisse und Erfolge zu erinnern, die man über die Jahre gemeinsam erlebt hat. Aber auch der schweren Stunden wird gedacht: Abschiede von liebgewonnenen Menschen und Hindernisse, die es zu überwinden galt.

Plötzlicher Schicksalsschlag

Wie im Jahr 2005, als das Ensemble plötzlich ohne seine Leiterin auskommen musste. Es fing mit einer Grippe an, die in eine Lungenentzündung überging, berichtet die heute 66-jährige Ingrid Berzau über die schwierige Phase. Zu den typischen Grippesymptomen kamen merkwürdige Bewegungsprobleme. Ich war extrem wackelig auf den Beinen und konnte keine Kaffeetasse mehr richtig abstellen. Berzau fragte einen befreundeten Neurologen um Rat. Der wies sie sofort in eine Klinik ein. Berzau hatte Glück im Unglück. In der ersten Nacht im Krankenhaus fiel ich auf dem Weg zur Toilette hin und kam nicht mehr allein hoch, erinnert sie sich. Sie robbte zum Notfallknopf und rief um Hilfe. Umgehend vorgenommene Untersuchungen ergaben die Diagnose Guillain-Barré-Syndrom (siehe Kasten). Daraufhin wurde die Patientin auf die neurologische Intensivstation verlegt, wo sie gleich eine Therapie mit Immunglobulinen erhielt. Ingrid Berzau: Die schnell eingeleitete Behandlung hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet.

Mehrere Wochen lag Berzau im Krankenhaus. Durch die entzündliche Polyneuropathie war sie von den Zehenspitzen bis zum Hals komplett gelähmt, eine Lähmung der Atemmuskulatur konnte gerade noch abgewendet werden. Ich war völlig hilflos und konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen, sagt Berzau rückblickend. Ich bin es gewohnt, mich über Spiel und Bewegung auszudrücken. Das war plötzlich nicht mehr möglich. Dafür war mein Geist überaktiv, ich hatte durch die Erkrankung teilweise sogar Halluzinationen und habe alles um mich herum extrem sensibel wahrgenommen.

Wasser in der Wüste

Hoffnung schöpfte Berzau unter anderem aus der Geschichte vom kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry: Da ich noch nicht mal ein Buch halten konnte, habe ich Passagen der Erzählung immer wieder aufgesagt und mir zusammen mit dem kleinen Prinzen elementare Fragen des Lebens gestellt. Und wie der Protagonist habe auch ich am Ende Wasser in der Wüste gefunden.

Denn: Nach tagelanger Bewegungsunfähigkeit begann die Therapie zu wirken. Ingrid Berzau spürte ihre Gliedmaßen wieder, zuerst nur die Kniescheibe, dann die Finger. Das Schlimmste war überstanden, auch wenn noch ein langer Weg vor mir lag, sagt Berzau heute. Nach fünf Wochen im Krankenhaus folgte eine intensive Reha. Dort hat mir sehr geholfen, dass ich grundsätzlich in guter körperlicher Verfassung war und Lust am spielerischen Ausprobieren habe – so lernte ich zum Beispiel, wie man einen Joghurtbecher mit dem Mund öffnet, wenn die Finger noch nicht so wollen.

Zurück auf die Bühne

Angst, nie wieder in ihrem Beruf als Schauspielerin arbeiten zu können, habe sie nie gehabt, sagt Berzau. Schon als sie noch für längere Strecken auf den Rollstuhl angewiesen und im Alltag noch sehr eingeschränkt war, kam ein wichtiger Impuls. Ein Regisseur, der das Stück Irrungen, Wirrungen von Theodor Fontane inszenierte, fragte mich, ob ich Rolle der ›Alten am Ofen‹ übernehmen wolle. Die Frau bewegt sich kaum und wenn doch, bekommt sie Hilfe von ihrer Tochter. Das hat gut gepasst. Zusätzlich übernahm die Schauspielerin noch eine kleine Aufgabe, bei der ein Vorhang aufgehalten werden musste – eine Kraftanstrengung, die sie im Rausch der Aufführung schaffte, obwohl sie körperlich noch gar nicht so weit war. Meine Physiotherapeutin, die bei der Premiere im Publikum saß, war ziemlich verblüfft, erinnert sich Ingrid Berzau. Theaterspielen setze offenbar ungeahnte Kräfte und Fähigkeiten frei.

Mit dem Rollator spielen

Das bemerke sie auch im eigenen Ensemble. Unsere ›Alten‹, wie wir sie liebevoll nennen, sind zwischen 66 und 90 Jahre alt. Es sind Leute mit ganz unterschiedlichen Biografien und manche mit altersbedingten Einschränkungen dabei, berichtet Berzau. Doch bei allen sei zu beobachten, dass Theaterspielen jung halte und gegen einige Gebrechen besser wirke als manche Therapie. Jeder hat seine Defizite und Verluste, aber wir gehen damit künstlerisch und humorvoll um. So würden Gehstock und Rollator wenn nötig in das Spiel integriert. Auf der Bühne erlebe das Publikum ein vitales, lebensfrohes und überraschend erfinderisches Ensemble.

Heute geht es Ingrid Berzau wieder gut: Ich wusste, dass mein Partner Dieter Scholz und das Theater mir den Rücken freihalten. Sie gaben mir alle Zeit, die ich brauchte. Jetzt merke ich meine Erkrankung so gut wie nicht mehr und freue mich auf weitere Projekte mit meinen junggebliebenen Alten.