Migräne: Heilsamer Entzug
In Deutschland leidet rund eine halbe Million Menschen unter chronischem Kopfschmerz durch übermäßigen Schmerzmittelgebrauch. Wie sie der fatalen Spirale entkommen können, erläutert Dr. Andreas Peikert, NTC-Neurologe in Bremen.
Herr Dr. Peikert, wer ist besonders gefährdet, Medikamente gegen Kopfschmerzen allzu häufig einzunehmen?
Meist trifft es diejenigen Patienten, die unter Migräne leiden. Gefährdet sind vor allem Menschen, die den schnellen Griff zur Tablette in ihrer Kindheit bei Angehörigen beobachtet haben oder aber jene, die meinen, immer funktionieren
zu müssen und niemals ausfallen zu dürfen. Eine weitere, besonders gefährdete Gruppe besteht aus Patienten, die im Laufe der Erkrankung eine besonders große Angst vor Schmerzen entwickelt haben. Sie haben erfahren, wie schlimm eine Migräneattacke mit hämmernden Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und anderen Symptomen sein kann. Und weil sie das vermeiden wollen, greifen sie mitunter verfrüht zu Medikamenten.
Wie stellen Sie fest, dass es sich tatsächlich um chronische Kopfschmerzen durch Medikamentenübergebrauch handelt?
Um das zu erkennen, genügen in der Regel drei Fragen. Die erste Frage ist, ob vor der Chronifizierung typische Migräneattacken auftraten. Ist das der Fall, frage ich, wie häufig die Kopfschmerzen in den vergangenen sechs Monaten waren und wie oft dagegen Medikamente eingenommen wurden. Wenn dann die Antwort regelmäßig über zehn Tage im Monat
bis hin zu fast täglich
lautet, handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch um einen medikamenten-induzierten Kopfschmerz. Das gilt vor allem, wenn Triptane, Kombinationsschmerzmittel oder die kaum noch gebräuchlichen Ergotamine eingenommen werden oder sogar Opioide, die in der Kopfschmerzbehandlung nichts zu suchen haben. Es kommt allerdings auch vor, dass bei einem Menschen mehr als zehn Migränetage im Monat krankheitsbedingt und nicht auf einen Medikamentenübergebrauch zurückzuführen sind. Eine Medikamentenpause verbessert die Situation nicht und die Häufigkeit zeigt eine besonders schwere Form der Migräne an.
Welche Wirkstoffe sind besonders problematisch, wenn sie zu häufig eingenommen werden?
Am schnellsten entwickelt sich ein Schmerzmittelkopfschmerz durch den Übergebrauch von Triptanen. Von Vorteil ist bei ihnen jedoch, dass nach einer Einnahmepause der Kopfschmerz innerhalb von wenigen Wochen zur früheren Frequenz zurückkehrt. Etwas länger dauert es bei anderen Substanzen. Besonders schwer zu bekämpfen ist der Kopfschmerz, der auf die Einwirkung von Opiaten oder Kodein zurückgeht. In diesen Fällen ist die Rückfallgefahr am höchsten – und meist ein stationärer Entzug erforderlich.
Woran kann ein Patient erkennen, dass seine Schmerzen womöglich mit den eingenommenen Medikamenten zu tun haben?
Wenn der Kopfschmerz länger anhält oder häufiger als üblich auftritt, ist das ein Indiz. Ein Beispiel: Hatte ein Patient ursprünglich fünf bis sechs Migränetage und sind daraus zehn Tage oder mehr geworden, liegt der Verdacht nahe, dass die eingenommenen Medikamente eine Mitschuld tragen. Liegt also die Anzahl der Schmerztage und die Zahl der Tage, an denen er Medikamente einnimmt, jenseits der erlaubten zehn Tage, sollte der Patient sein Verhalten hinterfragen und Hilfe suchen.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie Übergebrauchskopfschmerz vermuten?
Zunächst kläre ich meine Patienten über die Wechselwirkungen zwischen der häufigen Einnahme von Akutpräparaten und der Chronifizierung von Kopfschmerzen auf. Dann analysieren wir gemeinsam, wie sich die Chronifizierung entwickelt hat. Wie war der Kopfschmerz vor zehn oder 15 Jahren? Seit wann treten die Kopfschmerzen häufiger auf? Anschließend schlage ich eine Medikamentenpause von rund zwei Wochen vor. In dieser Zeit soll der Patient seinen Kopfschmerz ohne Akutschmerzmittel aushalten, in der Regel verbunden mit einer Krankschreibung. Alle anderen Maßnahmen, seien es Pfefferminzöl, kühle Kompressen oder der Aufenthalt im abgedunkelten Raum, sind selbstverständlich weiterhin erlaubt. Wer unter Übelkeit oder gar Erbrechen leidet, darf Medikamente gegen diese Beschwerden einnehmen.
Hat ein Patient besonders große Angst vor Entzugskopfschmerzen, verschreibe ich zur Linderung ein entzündungshemmendes Kortisonpräparat. Damit der Ausstieg aus dem Teufelskreis einfacher gelingt, habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, gleich zu Anfang der Pause eine medikamentöse Prophylaxe zu beginnen. So wird die Anzahl der Migränetage zurückgefahren und der Patient kann nach der Pause seine Schmerzen wieder mit Akuttherapeutika behandeln – jedoch nicht öfter als an zehn Tagen pro Monat. Bei der Migräneprophylaxe ist eine typgerechte Auswahl sehr wichtig. Denn die vorbeugenden Präparate können auch Nebenwirkungen haben, die man zum Nutzen des Patienten einsetzen kann. Es kommt darauf an, für jeden Einzelnen das richtige Präparat auszuwählen.
Können Sie das an einem Beispiel veranschaulichen?
Ein gutes Beispiel sind vorbeugende Substanzen, die im Nebeneffekt den Schlaf anstoßen. Sie eignen sich vor allem für gestresste Migränepatienten, die ihre Probleme mit in die Nacht nehmen und deswegen schlecht schlafen. Mit einer gezielten Medikation lassen sich dann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ein anderes Präparat fördert die Gewichtsreduktion, was für den einen oder anderen Patienten ein zusätzlicher Anreiz sein kann. Die gesamte Lebenssituation des Patienten ist immer in die Auswahl mit einzubeziehen, damit die Behandlung gelingt.
Wie erfolgreich ist die Therapie?
Übergebrauchskopfschmerzen lassen sich in der Regel gut behandeln. Eine norwegische Studie aus dem Jahr 2014 hat beispielsweise gezeigt, dass sich diese Form des Kopfschmerzes bei mehr als 50 Prozent der Betroffenen durch ein einmaliges, achtminütiges Aufklärungsgespräch mit dem Hausarzt dauerhaft beenden ließ. Was den Betroffenen oft Angst macht, ist die Pause von der Akutmedikation. Diese Sorge löst sich jedoch meist schnell auf. Nach der Therapie höre ich immer wieder von Patienten: So leicht hatte ich es mir nicht vorgestellt.
ak